Die E-Rezept-Farce |
Dass das E-Rezept bis Weihnachten noch in weiteren Regionen getestet wird, ist mehr als unwahrscheinlich, meint PZ-Chefredakteur Benjamin Rohrer. / Foto: imago images/Future Image
Die Gesellschafterversammlung der Gematik hat in dieser Woche wichtige Entscheidungen in Sachen E-Rezept-Einführung beschlossen. Eine dieser Entscheidungen betrifft das weitere Vorgehen bei der Einführung des neuen Verordnungssystems. Wie schon vor Wochen angekündigt, sollen ab dem 1. Dezember E-Rezept-Testprojekte in mehreren Regionen ermöglicht werden. Interessierte Initiativen aus Ärzten, Apothekern und deren Softwarehäusern können bei der Gematik entsprechende Tests anmelden. Bislang wurde das System nur in Berlin/Brandenburg mit sehr wenigen Apotheken, Praxen und zwei Krankenkassen ausprobiert – dem Vernehmen nach sind bislang rund zehn E-Rezepte verordnet, beliefert und abgerechnet worden.
Nach Informationen der PZ wurde diese Entscheidung in der Gesellschafterversammlung quasi alleine durch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) getroffen. Zur Erinnerung: Das BMG hält in der Gematik-Versammlung eine 51-prozentige Mehrheit, die alle anderen Gesellschafter (Apotheker, Kassen, Ärzte, etc.) quasi zu Zuschauern degradiert. Die Entscheidung des BMG, die E-Rezept-Projekte bundesweit zu öffnen, ist aber eine reine PR-Maßnahme, die voraussichtlich ohne Auswirkungen in der Versorgung bleibt. Denn: Weiterhin sind erst drei Softwarehäuser der Ärzte überhaupt in der Lage, die E-Rezept-Datensätze zu erzeugen, damit sie auf dem Fachdienst (Server) abgelegt werden können. Selbst wenn die Prognose der Gematik, dass schon sehr bald zahlreiche neue Softwarehersteller hinzukommen, wahr wird, dürfte es fast ausgeschlossen sein, dass diese Produkte wenige Tage später schon in Arztpraxen getestet werden, die mit der Coronavirus-Impfkampagne derzeit ohnehin völlig überlastet sind.
Und auch auf der Abrechnungsseite ist noch längst nicht alles vorbereitet. Laut Gematik sind zwar acht Rechenzentren E-Rezept-ready, drei weitere basteln aber noch an den Schnittstellen zu den Kassen. Die PZ hatte über die Probleme bei einzelnen Abrechnern bereits berichtet. Das wichtigste Argument, das gegen neue Testregionen spricht, ist allerdings die Zeit: Am 1. Januar 2022 wird das E-Rezept – zumindest auf dem Papier – gesetzlich eingeführt. Die Gematik bestätigte gegenüber der PZ: Alle (!) Testprojekte müssen bis Jahresende und zum Beginn des gesetzlichen Starts abgeschlossen sein. Welche Kassenärztliche Vereinigung, welcher Apothekerverband, welche Softwarehersteller sollten ein technisch anspruchsvolles Modellprojekt starten, das nach vier Wochen und der Weihnachtszeit wieder gestoppt wird?
Vielleicht überraschen BMG und Gematik uns in der kommenden Woche ja doch mit einem neuen E-Rezept-Modellprojekt. Vielleicht wollte man sich aber auch einfach nicht öffentlich eingestehen, dass eines der zentralen, politischen Projekte des Jens Spahn (CDU) dieser Legislaturperiode schlichtweg hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist.
Mit Blick auf den 1. Januar könnte dies aber weitreichende Folgen haben. Denn dass Ärzte in Deutschland dann flächendeckend nur noch E-Rezept-Codes verordnen, ist aufgrund der vielen technischen Baustellen schlichtweg undenkbar. Rein gesetzlich und theoretisch gesehen greift ab Januar dann eine Gesetzespassage, die es den Medizinern bei technischen Problemen mit dem E-Rezept-System erlaubt, auch weiter über Muster-16-Rezepte zu verordnen. Praktisch gesehen könnte es allerdings dazu kommen, dass das Nicht-Eingreifen des BMG zu einem Rezept-Chaos führt. Denn im Laufe des Jahres werden immer mehr Ärzte in der Lage sein, elektronische zu verordnen. Was passiert aber, wenn die Rechenzentren diese Datensätze noch gar nicht an die Kassen weiterleiten können oder die Daten aus den neuen Software-Modulen fehlerhaft sind? Klar ist, dass am Ende der Patient leidet. Nicht nur, dass die Patienten ab dem kommenden Jahr mit einem Rezept-Mischmasch aus Muster-16, ausgedruckten Codes und Smartphone-E-Rezepten konfrontiert werden. Hinzu kommt, dass die Patienten aufgrund der unzureichend getesteten Verordnungsabläufe mehrfach zum Arzt oder in die Apotheke müssen, weil technische Fehler auftreten.
Das Papier-Rezept ist ein Auslaufmodell. Mit dem E-Rezept sollen alle Arzneimittel-Verordnungen über die Telematikinfrastruktur abgewickelt werden. Wir berichten über alle Entwicklungen bei der Einführung des E-Rezeptes. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite E-Rezept.