Statt sich bei der Alzheimertherapie nur auf Aβ und τ zu konzentrieren, deuten aktuelle Modelle darauf hin, dass Alzheimer vor allem auch als Störung von Systemprozessen gesehen werden muss. »Fehlregulationen der Mikroglia, die quasi als Immunsystem des Gehirns angesehen werden können, oder die Blut-Hirn-Schranke werden bislang nicht ernst genug genommen. Auch die zentrale Insulinresistenz und damit die Entgleisung im Gehirn ist ein bisher zu wenig beachteter Player im Alzheimer-Prozess.«
Besondere Bedeutung bemisst Dingermann der Proteostase und der Autophagie zu. »Schließlich entsteht die Alzheimer-Erkrankung nicht nur durch toxische Proteine, sondern auch durch das Versagen der Systeme, die sie abbauen sollen. Lysosomale Defekte gehören zu den frühesten pathologischen Veränderungen und fehlender Abbau fördert wiederum die Amyloidbildung und τ-Aggregate. Das blockiert den axonalen Transport, weshalb Autophagie-Stillstand droht.« Der Pharmazieprofessor beschrieb die Erkrankung als eine lysosomale Netzwerkstörung. »Das heißt, wir haben heute ein ganz anderes Verständnis für die Alzheimer-Pathologie.«
Laut Dingermann ist die Demenzforschung im vergangenen Jahr ein großes Stück vorangekommen, um dem präklinischen Alzheimer-Geschehen frühzeitiger zu begegnen. Die Einführung zweier neuer Tests sowohl in den USA als auch in der EU sei ein »kleiner Durchbruch« in der Diagnose. »Gewissermaßen holen wir damit die pathologischen Prozesse, die uns 15 bis 20 Jahre voraus sind, früher ein und machen ein bisschen Boden gut im Kampf gegen das Vergessen.«
Mitte des Jahres ließ die FDA erstmals einen Bluttest zur Diagnoseunterstützung der Alzheimer-Krankheit zu (Lumipulse® G pTau217/ β-Amyloid 1-42 Plasma Ratio). Im Vergleich zu bisherigen Diagnosemethoden wie der Positronenemissionstomografie (PET) oder Lumbalpunktionen zur Liquorentnahme ist der Test weniger aufwendig und invasiv. Eine einfache Blutabnahme reicht aus, um das Verhältnis der beiden Proteine phosphoryliertes Tau217 und β-Amyloid 1-42 zu bestimmen, das mit dem Vorhandensein von Amyloid-Plaques korreliert. »Der Test könnte die Alzheimer-Diagnostik deutlich erleichtern und kostspielige sowie belastende Verfahren wie PET-Scans in vielen Fällen überflüssig machen. Voraussetzung ist allerdings, dass eine Symptomatik vorhanden sein muss. ›Einfach mal so testen‹ geht nicht.«
Während der Lumipulse-Test das Vorhandensein von Amyloid-Plaques im Gehirn nachweist, ist der Elecsys® pTau181 darauf ausgerichtet, eine Amyloid-Pathologie auszuschließen. Er richtet sich an Erwachsene ab 55 Jahren mit Anzeichen oder Symptomen eines kognitiven Verfalls. Deutet das Testergebnis darauf hin, dass wahrscheinlich keine Alzheimer-Pathologie vorliegt, können die Patienten einer spezifischeren Therapie zugeführt werden, hofft Dingermann.