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Weihnachtsvorlesung zu Demenz
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Die Beach Boys vom Main

Fortbildung mit Entertainment-Faktor: Dafür steht seit zwanzig Jahren die »Weihnachtsvorlesung« an der Universität Frankfurt am Main. Diesmal beleuchteten die Pharmazieprofessoren Dr. Theo Dingermann und Dr. Dieter Steinhilber die Demenzerkrankung von Beach Boy Brian Wilson.
AutorKontaktElke Wolf
Datum 22.12.2025  18:00 Uhr

Brian Wilson, kreativer Kopf und charakteristischer Stimmgeber der Beach Boys, ist im vergangenen Sommer 82-jährig verstorben. Seit Jahren litt er an neurokognitiven Störungen. »Wilson war aber vermutlich nicht an Alzheimer erkrankt, also jene Ausprägungsvariante, die den Hauptteil der Demenzformen ausmacht. Denn während er die Namen von Familienmitgliedern vergessen hatte, konnte er sämtliche Akkorde seiner berühmtesten Hits und Alben nach wie vor spielen. Und das ist für eine Alzheimer-Demenz eher ungewöhnlich«, erklärte Steinhilber die biografischen Eckdaten »eines der bedeutendsten Songwriter und Musikproduzenten des 20. Jahrhunderts«.

Eine Alzheimer-Demenz entwickelt sich kaskadenartig. Sie macht sich durch leichte Beeinträchtigungen des Denkens und Erinnerns bemerkbar und wird in diesem Anfangsstadium als leichte kognitive Störung (Mild Cognitive Impairment, MCI) bezeichnet. »Das Problem: Kommt es zu ersten neurokognitiven Leistungseinbußen, sind bereits 70 Prozent der Neuronen abgestorben. Die pathologischen Prozesse im Hirn gehen der Symptomatik um 15 bis 20 Jahre voraus«, machte Dingermann auf die Tatsache aufmerksam, dass bislang Diagnostik und Therapie den ablaufenden Ablagerungsprozessen im Hirn kräftig hinterherhinken.

Deshalb sind bereits in dieser ersten Symptomphase der MCI im Gehirn der Betroffenen Ablagerungen von β-Amyloid-(Aβ-)Plaques nachweisbar. Diese sind, ebenso wie Fibrillen aus hyperphosphoryliertem τ-Protein, typisch für die Alzheimer-Krankheit. Aβ und τ scheinen zusammen den fortschreitenden Gedächtnisverlust der Patienten wesentlich zu verursachen. Allerdings machte Dingermann auch klar, dass die genauen Mechanismen zwar immer besser verstanden, aber noch längst nicht aufgeklärt sind.

Bisherige Therapien – bestehend aus den Cholinesterasehemmern Donepezil und Rivastigmin sowie dem Glutamat-Antagonisten Memantin – seien bestenfalls eingeschränkt wirksam. »Weil sie nur Symptome behandeln, kommt ihr Einsatz viel zu spät«, so der Referent. »Bisher hatten wir keine Möglichkeiten, den fortschreitenden Untergang der Neuronen zu detektieren. Das ist eine vertane Chance, dieses Zeitfenster zwischen Akkumulation der Proteine bis zu einsetzenden Symptomen nicht zu nutzen. Hier ist die Forschung gefordert.«

Alzheimer neu denken

Statt sich bei der Alzheimertherapie nur auf Aβ und τ zu konzentrieren, deuten aktuelle Modelle darauf hin, dass Alzheimer vor allem auch als Störung von Systemprozessen gesehen werden muss. »Fehlregulationen der Mikroglia, die quasi als Immunsystem des Gehirns angesehen werden können, oder die Blut-Hirn-Schranke werden bislang nicht ernst genug genommen. Auch die zentrale Insulinresistenz und damit die Entgleisung im Gehirn ist ein bisher zu wenig beachteter Player im Alzheimer-Prozess.«

Besondere Bedeutung bemisst Dingermann der Proteostase und der Autophagie zu. »Schließlich entsteht die Alzheimer-Erkrankung nicht nur durch toxische Proteine, sondern auch durch das Versagen der Systeme, die sie abbauen sollen. Lysosomale Defekte gehören zu den frühesten pathologischen Veränderungen und fehlender Abbau fördert wiederum die Amyloidbildung und τ-Aggregate. Das blockiert den axonalen Transport, weshalb Autophagie-Stillstand droht.« Der Pharmazieprofessor beschrieb die Erkrankung als eine lysosomale Netzwerkstörung. »Das heißt, wir haben heute ein ganz anderes Verständnis für die Alzheimer-Pathologie.«

Erleichterte Diagnostik mit plasmabasierten Biomarkern

Laut Dingermann ist die Demenzforschung im vergangenen Jahr ein großes Stück vorangekommen, um dem präklinischen Alzheimer-Geschehen frühzeitiger zu begegnen. Die Einführung zweier neuer Tests sowohl in den USA als auch in der EU sei ein »kleiner Durchbruch« in der Diagnose. »Gewissermaßen holen wir damit die pathologischen Prozesse, die uns 15 bis 20 Jahre voraus sind, früher ein und machen ein bisschen Boden gut im Kampf gegen das Vergessen.«

Mitte des Jahres ließ die FDA erstmals einen Bluttest zur Diagnoseunterstützung der Alzheimer-Krankheit zu (Lumipulse® G pTau217/ β-Amyloid 1-42 Plasma Ratio). Im Vergleich zu bisherigen Diagnosemethoden wie der Positronenemissionstomografie (PET) oder Lumbalpunktionen zur Liquorentnahme ist der Test weniger aufwendig und invasiv. Eine einfache Blutabnahme reicht aus, um das Verhältnis der beiden Proteine phosphoryliertes Tau217 und β-Amyloid 1-42 zu bestimmen, das mit dem Vorhandensein von Amyloid-Plaques korreliert. »Der Test könnte die Alzheimer-Diagnostik deutlich erleichtern und kostspielige sowie belastende Verfahren wie PET-Scans in vielen Fällen überflüssig machen. Voraussetzung ist allerdings, dass eine Symptomatik vorhanden sein muss. ›Einfach mal so testen‹ geht nicht.«

Während der Lumipulse-Test das Vorhandensein von Amyloid-Plaques im Gehirn nachweist, ist der Elecsys® pTau181 darauf ausgerichtet, eine Amyloid-Pathologie auszuschließen. Er richtet sich an Erwachsene ab 55 Jahren mit Anzeichen oder Symptomen eines kognitiven Verfalls. Deutet das Testergebnis darauf hin, dass wahrscheinlich keine Alzheimer-Pathologie vorliegt, können die Patienten einer spezifischeren Therapie zugeführt werden, hofft Dingermann.

Therapien mit Perspektiven

Auch auf dem Gebiet der Behandlungsoptionen ist die Arzneimittelforschung ein gutes Stück vorangekommen. Die Zulassung zweier monoklonaler Antikörper vor wenigen Monaten zeugte laut Dingermann davon: Lecanemab (Leqembi®) und Donanemab (Kisunla®) zur Behandlung leichter kognitiver Störung und leichter Alzheimer-Krankheit. »Zwar bedeuten beide sicherlich nicht den ganz großen Durchbruch. So sieht etwa das IQWIG bei Lecanemab keinen nachgewiesenen Zusatznutzen zum bisherigen Therapiestandard. Dennoch orientiert sich der Therapieansatz mehr am eigentlichen Pathologiegeschehen.«

Beide gegen Aβ gerichteten Antikörper sind in der Lage, Plaques bei Patienten mit Alzheimer aufzulösen. Die Anwendung kann bei Patienten in der Frühphase der Erkrankung den kognitiven Abbau verlangsamen. Anders als Lecanemab greift Donanemab nicht an Aβ, sondern an dessen N3-Pyroglutamat (N3pG) an. Dieses ist Bestandteil der Plaques, weshalb sich die Ablagerungen unter Donanemab rasch auflösen. Dagegen verhindert Lecanemab in erster Linie die Neubildung von Plaques und führt nur sekundär zu deren Abbau. Donanemab räumt die Plaques somit schneller ab als Lecanemab.

Infolge des Abbaus der Aβ-Plaques kann es unter beiden Antikörpern zu Ödemen und potenziellen Blutungen im Gehirn kommen, die durch vaskuläre Entzündungen verursacht werden und tödlich sein können (Amyloid-bedingte Bildgebungsanomalien, ARIA-E beziehungsweise ARIA-H). Homozygote Träger des Gens ApoEε4, die ein besonders hohes Risiko für ARIA haben, sind von der Anwendung ausgeschlossen. Vor und während der Anwendung sind häufige Kontrollen im MRT vorgeschrieben. »Welche Patienten für die Antikörper überhaupt infrage kommen, ist so aufwendig zu selektieren, dass es ein Hinderungsgrund ist, solche Therapien im niedergelassenen Bereich zu etablieren«, ist Dingermann skeptisch.

Auch auf ein weiteres Problem machte er aufmerksam: Weil die Blut-Hirn-Schranke eine nahezu unüberwindbare Barriere darstellt, müssen die beiden therapeutischen Antikörper hoch dosiert gegeben werden und erreichen dennoch nur geringe Gewebskonzentrationen im Gehirn. Hier scheinen sich aber Fortschritte abzuzeichnen, wie er darlegte: Eine breit einsetzbare Plattform-Technologie erlaubt es seit Kurzem, die unzureichende Penetration durch die Blut-Hirn-Schranke zu verbessern und zugleich das Risiko für ARIA zu reduzieren. Eine Schlüsselrolle spielten dabei auf Hirnendothelzellen exprimierte Transferrin-Rezeptoren (TfR).

Die Zukunft der Alzheimer-Therapie sieht er in der regenerativen Medizin, bei der per Zelltherapie schadhafte Zellen ersetzt werden. Aktuelle Forschungsergebnisse deuteten jedenfalls daraufhin, dass eine gezielte Beeinflussung der Mikroglia einen gewissen Schutzfaktor vor Alzheimer bringen könnte. »Die Wissenschaftler vermuteten, dass bestimmte somatische Mutationen im Blutsystem, die bei Personen mit Trisomie 21 häufiger auftreten, die Mikroglia widerstandsfähiger gegen Alzheimer-typische τ-Proteine machen könnten. Und so war es dann auch: Bei Mäusen, denen die veränderte Mikroglia mit der mutierten Rezeptoruntereinheit eingesetzt wurde, konnten effizient τ-Proteine wie ein Staubsauger abgeräumt werden. Zusätzlich wurden auch die Umgebungszellen positiv konditioniert«, stellte Dingermann die aktuellen Studienergebnisse vor.

Lebensstilfaktoren als wichtige Präventionskomponente

Fast alle Therapien wirken effizienter, wenn man sie früh genug einsetzt. Nicht zu unterschätzen seien auch nicht pharmakologische Interventionen. »In Anbetracht der Tatsache, dass bei Symptombeginn bereits 70 Prozent der Neuronen untergegangen sind, sollte einer gesunden Lebensweise mehr Bedeutung beigemessen werden«, forderte Dingermann.

Dazu gehöre vor allem ausreichend Schlaf von guter Qualität. »Nur dann ist gewährleistet, dass das glymphatische System im Gehirn optimal als Abfallversorgung des Zentralnervensystems fungiert.« Genauso wichtig seien ausreichend Bewegung, weil Myokine innerhalb der Muskulatur die Neuroinflammation modulieren. Als einer der am stärksten modifizierbaren Risikofaktoren bezeichnete der Referent jedoch den Hörverlust. »Wer schlecht hört, sollte sich nicht scheuen, ein Hörgerät zu tragen. Der Weg in die Isolation ist ansonsten programmiert.«

Eine weitere Präventionsmaßnahme kann nun laut Dingermann als belegt angesehen werden: Eine Impfung gegen Gürtelrose schützt vor einer Demenzerkrankung. Mehr noch: Die Immunisierung gegen die Herpesviren verlangsamt auch den Krankheitsverlauf bei bestehender Alzheimer-Demenz in verschiedenen Stadien teils drastisch.

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