Besserer Arzneimittelzugang nicht höchste Priorität |
Melanie Höhn |
20.10.2022 10:30 Uhr |
Die beschädigte und teilweise zerstörte Logistikinfrastruktur schränkt den Zugang zu Medikamenten in der Ukraine ein. / Foto: Imago/ITAR-TASS
Nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist die medizinische Versorgung in vielen Teilen der Ukraine zusammengebrochen. Die Lage ist prekär, denn die russische Armee greift gezielt Krankenhäuser oder Geburtskliniken an. Die Versorgung mit Arzneimitteln und der Zugang zu Gesundheitsversorgung ist laut WHO extrem problematisch, tausende Apotheken mussten schließen.
Anfang Juli 2022 sagten nun die Geberländer im schweizerischen Lugano der Ukraine für die kommenden zehn Jahre rund 750 Milliarden US-Dollar (etwa 765 Milliarden Euro) für 850 Projekte zum Wiederaufbau des zerstörten Landes zu, wie die GTAI informiert. Für das Gesundheitswesen seien rund 5 Milliarden US-Dollar vorgesehen. Mit diesen Mitteln wolle das osteuropäische Land nicht nur die Kriegsfolgen beheben, sondern das Gesundheitssystem grundsätzlich umgestalten. Westliche Standards und Praktiken sollen maßgeblich werden, betonte Michail Raduzkij, Vorsitzender des Komitees für das Gesundheitswesen, medizinische Dienstleistungen und Krankenversicherungen des ukrainischen Parlaments (Werchownaja Rada).
Der Fokus beim Wiederaufbau liegt laut GTAI auf dem Bau neuer und der Sanierung bestehender spezialisierter medizinischer Einrichtungen, der Weiterentwicklung eines E-Health-Systems (mit der Möglichkeit zur Integration in europäische und weltweite Systeme), der großflächigen Einführung der Telemedizin, der Entwicklung eines Netzwerks moderner Universitätskliniken, dem Bau von Krankenhäusern in Modulbauweise nach europäischen Standards (inklusive Lokalisierung der Produktion der Module) sowie der Ausarbeitung einer Roadmap zur Digitalisierung des Gesundheitswesens.
Um die Ziele für den Wiederaufbau umzusetzen, legte das ukrainische Gesundheitsministerium im Juli 2022 einen Entwurf mit insgesamt neun Prioritäten vor, die bis 2032 erreicht werden sollen. Die Verbesserung des Zugangs zu Arzneimitteln ist dabei nur die neunte Priorität. Die Umsetzung erschweren laut GTAI das bis dato nicht absehbare Ende der Kampfhandlungen, die vergleichsweise bescheidene Summe von 5 Milliarden US-Dollar zur Finanzierung sowie fehlende oder emigrierte Fachkräfte die Erfüllung der Ziele.
Priorität eins habe laut GTAI die Stärkung der nationalen Gesundheitsinstitutionen. Im Fokus stehe die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung in den befreiten und vorübergehend besetzten Gebieten. Zudem wird der Einhaltung der Anforderungen des Assoziierungsabkommens mit der EU und der Harmonisierung der Rechtsvorschriften im Gesundheitswesen ein hoher Stellenwert beigemessen.
Die zweite Priorität habe die Steigerung der öffentlichen Gesundheitsausgaben. Wichtigste Maßnahme sei die Umsetzung des Gesetzes zur Finanzierung des Programms medizinischer Garantien. Jährlich sollen 5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) zur Verfügung stehen. Als Prioritäten drei und vier nennt der Entwurf die Wiederherstellung und den Umbau eines Netzes medizinischer Einrichtungen. Patienten sollen Zugang zu hochwertigen medizinischen Dienstleistungen erhalten. Zudem soll den Bedürfnissen von Kriegsversehrten, vor allem im Bereich Rehabilitation und psychologischer Betreuung, besser Rechnung getragen werden, so das GTAI.
Bei Priorität fünf geht es um die Stärkung des Humankapitals des Gesundheitssystems. Dem medizinischen Ausbildungssystem würden aktuell moderne und leistungsfähige Universitätskliniken fehlen. Zudem existiere keine kontinuierliche berufliche Weiterbildung für Rehabilitationsfachkräfte. Abhilfe schaffen sollen neue Formen berufspraktischer Ausbildung für alle Gesundheitsberufe, ein Konzept zur spezialisierten medizinischen und pharmazeutischen Ausbildung sowie eine langfristige Personalplanung im Gesundheitswesen, wie die GTAI informiert. Priorität sechs schlägt laut GTAI die Bereitstellung von Ressourcen für die Prävention von Krankheiten vor. Die Mittel sollen unter anderem in die Schaffung eines Labornetzwerks fließen, das die Standards für Biosicherheit gemäß den WHO-Richtlinien erfüllt.
Die Entwicklung von E-Health-Lösungen und der Ausbau der Cybersicherheit stehen im Zentrum von Priorität sieben. Fehlende digitale Informationen über Patienten würden laut GTAI die Entwicklung der Telemedizin bremsen. Darüber hinaus seien die Prozesse zur Erhebung, Analyse und Validierung von Daten und Statistiken nicht ausgereift. Abhilfe schaffen sollen die Implementierung intelligenter klinischer Systeme, solcher zur Verarbeitung von Big Data und künstlicher Intelligenz. Zudem soll ein Zentrum zur Koordinierung, Analyse und Ausformulierung von Richtlinien zur Cybersicherheit im Gesundheitswesen geschaffen werden.
Als achte Priorität soll ein System des Qualitätsmanagements auf nationaler und regionaler Ebene aufgebaut werden. Dazu müsse zunächst eine langfristige Vision von Patientenqualität und -sicherheit im Gesundheitssystem entwickelt, sowie die Umsetzung und Harmonisierung des Rechtsrahmens für die Qualität der medizinischen Versorgung und Patientensicherheit mit der EU-Gesetzgebung koordiniert werden, informiert die GTAI.
Die Verbesserung des Zugangs zu Arzneimitteln und der Wiederaufbau der Pharmabranche ist Thema von Priorität neun. Die beschädigte und teilweise zerstörte Logistikinfrastruktur schränke den Zugang zu Medikamenten ein und die nationale Liste der lebensnotwendigen Arzneimittel soll nach der Bewertung medizinischer Technologien (OMT) ergänzt werden, so die GTAI. Dazu seien Änderungen des Verfahrens zur Konformität der Produktion von Arzneimitteln mit den Anforderungen der guten Herstellerpraxis (GMP) notwendig. Zudem soll eine Roadmap zum Aufbau eines Verifizierungssystems für Arzneimittel nach EU- und GS1-Standards definiert und umgesetzt werden. Letzteres steht für unternehmensübergreifende und effiziente Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette.