Bakterielle Vielfalt in aller Munde |
Das bakterielle Leben im Mund beeinflusst weit mehr als Zahngesundheit und Mundgeruch. / Foto: Adobe Stock/deagreez
Die Mundhöhle als Biotop zu bezeichnen, kommt nicht von ungefähr. Immerhin sind dort etwa 700 verschiedene Bakterienspezies nachgewiesen worden, die in Form unterschiedlicher oraler Mikrobiota die Zahn- und Schleimhautoberflächen besiedeln und in dynamischer Gemeinschaft stehen. »Diese 700 verschiedenen Arten finden sich aber nicht in allen Mündern, sondern wir tragen als Individuen zwischen 200 und 300 verschiedene Bakterienspezies in unserem Mund«, sagt Professor Dr. Matthias Hannig, Leiter der Klinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Präventive Zahnheilkunde am Universitätsklinikum des Saarlandes, im Gespräch mit der PZ.
Konsequente Zahnpflege hat wesentlichen Einfluss auf das Leben im Mund. Rückt man den Bakterien nicht täglich mit Bürste, Paste und Co. zu Leibe, bilden sie einen zähen Belag, der Karieslöcher in den Zahn ätzt, einen Keil zwischen Zahn und Fleisch treibt und längerfristig den Zahnhalteapparat angreift. Aus polymeren Kohlenhydraten und Eiweißmolekülen schaffen sie sich gemeinschaftlichen Wohnraum. Jedes Bakterium, das anhaftet, wird zur Andockstelle für weitere Keime. Verschiedene Arten leben in diesen Biofilmen einträchtig zusammen, ihre unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten machen solche Lebensgemeinschaften für alle Bewohner profitabel. Zum Leidwesen des Wirtes.
»Die regelmäßige Mundhygiene hat sich bewährt, um die balancierte Situation zwischen Wirt und seiner gesunden Mundflora zu erhalten und nicht in den Zustand der Dysbiose hineinzugelangen«, erklärt Hannig. Treten Karies, Parodontitis oder Zahnfleischtaschen auf, »liegt das ja nicht an Keimen, die von irgendwoher in den Mund gelangt wären. Sie gehören zur normalen Flora, sind aber in so geringen Mengen vorhanden, dass sie keine Rolle spielen. Erst wenn sie überwuchern – wenn also für sie die Bedingungen im lokalen Ökosystem stimmen –, übernehmen sie eine pathologische Rolle«. Rauchen ist zum Beispiel ein immenser Störfaktor für die Balance im Mund-Mikrobiom.
Der Zahnmediziner erläutert das an der Entstehungsgeschichte der Karies: »Das Modell der Leitkeime kam zwar vor Jahrzehnten auf, für die Karies haben wir es aber komplett revidieren müssen. Karies ist nicht auf einen einzigen Keim – Streptococcus mutans – zurückzuführen, sondern es liegt eine Dysbiose zwischen Wirt und Mikrobiota vor. Neben S. mutans können noch andere Bakterienspezies Zucker sehr gut verstoffwechseln. Daraus entstehen metabolische Abbauprodukte wie verschiedene organische Säuren, die den Zahnschmelz angreifen, entkalken und zu Karies führen. Konkret heißt das, dass zwar ohne den Säureangriff der Zahnschmelz nicht in Lösung geht, genauso bedeutend ist es aber, dass die Bakterien in der Lage sind, im Sauren bei niedrigem pH-Wert zu überleben. Und das geht dann eben bei dysbiotischen Verhältnissen.«
Sehr viel komplexer gestalte sich laut Hannig die Entstehung der Parodontitis. Dabei fungiere Porphyromonas gingivalis quasi als Leitkeim, dem man den Schwund im Mund in die buchstäbliche Tasche schieben kann. Dennoch gibt es daneben eine Reihe anderer bakterieller Unholde, die ein breites Spektrum an Gewebe abbauenden Enzymen besitzen. Gewinnen sie die Oberhand, bauen die Proteasen in beträchtlicher Geschwindigkeit Kollagen oder Komplement ab, das Bindegewebe des Zahnfleisches wird förmlich zerlegt.
Für das fein austarierte Gleichgewicht zwischen den Keimen spielt der Speichel eine wichtige Rolle. Die Drüsen in der Lippen-, Gaumen- und Wangenschleimhaut produzieren bei gesunden Menschen täglich bis zu 1,5 Liter Speichel. Dieser hat wichtige Aufgaben. Beim Kauen, Schlucken und Sprechen dient er als Gleitmittel und durch seine Spülfunktion befreit er den Mund grob von Speiseresten und schädlichen Keimen.
Gleichzeitig hält der Speichel die Mundschleimhaut feucht und benetzt die Zähne. Bicarbonat, Phosphat und Proteine können zahnschädigende Säuren neutralisieren, und die Mineralstoffe Fluorid, Calcium und Phosphat dienen der Remineralisierung der Zähne. Immunglobulin A und die Enzyme Lysozym, Laktoferrin und Laktoperoxidase sorgen für die Infektabwehr. Seine Amylasen helfen bei der Zerkleinerung von Kohlenhydraten.
»Aufgrund der Polymedikation ist Mundtrockenheit ein massives Problem in der älteren Bevölkerung und hat große Relevanz für die Entstehung von Karies«, weiß Hannig. In der Tat sind Medikamente die häufigste Ursache der Xerostomie, wie die Mundtrockenheit auch genannt wird. Bei mehr als 400 Arzneistoffen kann Mundtrockenheit als Nebenwirkung auftreten.
Arzneistoffe sind die Haupturheber für Mundtrockenheit. Vor allem, wenn die Arzneimittel dauerhaft eingenommen werden müssen, treten trockene Schleimhäute zutage. Werden Arzneimittel mit anticholinerger Haupt- oder Nebenwirkung miteinander kombiniert, addiert sich gar die anticholinerge Last und der Speichelfluss nimmt merklich ab. Kommt dann noch eine altersbedingte Reduktion der Speichelmenge hinzu, wird das Trockenheitsgefühl oft unerträglich.
An erster Stelle stehen Arzneistoffe, die über das zentrale oder periphere Nervensystem die Regulation der Speicheldrüsen beeinflussen, die also anticholinerg wirken. Dazu gehören vor allem Psychopharmaka wie Amitriptylin, Doxepin oder Venlafaxin, Antihistaminika wie Diphenhydramin oder Dimetinden, Antihypertonika wie Clonidin (übrigens auch in Glaukom-Augentropfen) und Moxonidin, Nifedipin, manche ACE-Hemmer und Betablocker.
Auch Bestrahlungen im Kopf-, Hals-, Mund- und Kieferbereich beeinträchtigen die Mundgesundheit. »Parallel zur strahleninduzierten Mukositis kann auch Speicheldrüsengeweben zerstört werden; die Ohr-, die Kiefer- und die Unterzungenspeicheldrüse sind häufig mit im Strahlenfeld. Wird das Gewebe irreversibel zerstört, ist die Speichelproduktion in Qualität und Quantität massiv beeinträchtigt. Das ist ein Problem, das weit über die Zeit der Bestrahlung hinausgeht und die Patienten über Jahrzehnte belastet.«
Sind Großteile des Speicheldrüsengewebes zerstört, entwickeln sich laut Hannig in der Mundhöhle besorgniserregende Krankheitsbilder. »Die Zähne erscheinen von innen her erweicht, eine Art gummiartige Konsistenz des Zahnbeins, der Zahnschmelz hält nicht mehr richtig auf dem Zahnbein, schert unter Kaubelastung ab, das weiche Zahnbein liegt frei. Was früher als Strahlenkaries bezeichnet wurde, sehen wir heute als kombiniertes Krankheitsbild aus Karies, Verminderung des Speichelflusses und Strahlenschaden an der Zahnhartsubstanz.«
Parodontitis ist keinesfalls eine nur auf den Mund beschränkte Krankheit. So eng verknüpft dürfte etwa das Zusammenspiel zwischen Mund-Mikrobiom und dem darunter liegenden MALT-System (Mukosa-assoziiertes lymphatisches Gewebe) sein. Immer wenn das entzündete Parodont belastet wird, etwa beim Essen oder Zähneputzen, gelangen die Bakterien durch die kleinen Wunden in den Blutstrom und werden in jeden Winkel des Organismus gespült – und können dort offenbar schwere Schäden hinterlassen. So scheint Rauchen das Immunsystem ähnlich nachhaltig zu stören wie eine latente Infektion mit dem Cytomegalievirus und ein erhöhter Body-Mass-Index.
Laut Hannig ist der Zusammenhang zwischen Parodontitis und Diabetes am längsten bekannt, »und zwar in beide Richtungen«. Diabetiker haben ein im Vergleich zu Gesunden dreifach erhöhtes Risiko, an Parodontitis zu erkranken. Bei Diabetes-Patienten mit schlecht eingestelltem Blutzucker verlaufen Entzündungen im Mundraum schwerer als bei gut kontrollierten Blutzuckerwerten; umgekehrt erschwert eine bestehende Parodontitis eine gute Blutzuckereinstellung. Auch Parodontitis und kardiovaskuläre Erkrankungen scheinen miteinander verknüpft. So geht man unabhängig von anderen Risikofaktoren ein mindestens doppelt so hohes Risiko ein, einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden, wenn der Zahnhalteapparat entzündet ist. Und erst kürzlich legte eine Studie dar, dass Zähneputzen während eines Klinikaufenthaltes das Risiko für eine stationär erworbene Lungenentzündung zu senken vermag.
Inwiefern das orale Mikrobiom das im Gastrointestinaltrakt beeinflusst, ist derzeit nicht geklärt. »Wir vermuten zwar, dass alle Mikrobiome des menschlichen Organismus in irgendeiner Weise miteinander zusammenhängen. Aber erwiesen ist das nicht. Einzelne Studien haben einige Zusammenhänge aufgezeigt, was derzeit aber nicht an größeren Patientenkollektiven bestätigt ist.« Hannig hofft auf mehr Erkenntnisse durch eine groß angelegte Studie an der Universitätsmedizin des Saarlandes. »Dazu haben wir gemeinsam mit anderen Fachrichtungen wie der Dermatologie und der Inneren Medizin von Gesunden und Kranken Tausende Mikrobiom-Proben aus Mund, Speichel, Darm, Stuhl und Haut genommen und analysiert.« Die Daten seien zur Publikation eingereicht.