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Streit um Vitamin-B-Prophylaxe

05.12.2005  11:45 Uhr

Homocystein

Streit um Vitamin-B-Prophylaxe

von Christina Hohmann, Eschborn

 

Eine B-Vitamin-Therapie zur Prävention der Atherosklerose senkt das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall nicht. Das ergab die kürzlich vorgestellte NORVIT-Studie. Die Untersuchung habe methodische Fehler und sei daher nicht aussagekräftig, kritisieren dagegen Experten der D.A.CH.-Liga Homocystein.

 

Erhöhte Spiegel der toxischen Aminosäure Homocystein gelten als Risikofaktor für Gefäßkrankheiten und somit für Schlaganfall und Herzinfarkt. Die häufigste Ursache für hohe Werte ist die Unterversorgung mit Folsäure, Vitamin B12 und B6. Seit Jahren empfehlen Experten Risikopatienten daher die Supplementation dieser Vitamine, um die Homocysteinkonzentration zu senken. Ob sich auf diese Weise tatsächlich kardiovaskuläre Ereignisse oder Todesfälle verhindern lassen, sollten verschiedene große Studien klären. Die Ergebnisse der ersten großen Untersuchung, der so genannten NORVIT-Studie (Norwegian Vitamin Trial), wurden nun auf dem europäischen Kardiologenkongress in Stockholm vorgestellt.

 

Für die randomisierte, placebokontrollierte Doppelblindstudie wurden 3749 Patienten im Alter zwischen 38 und 84 Jahren, die einen akuten Herzinfarkt hatten, rekrutiert. Die Teilnehmer erhielten entweder Vitamin B6 (40 mg) allein, Folsäure (0,8 mg) zusammen mit Vitamin B12 (0,4 mg), die drei Vitamine B12, B6 und Folsäure zusammen in den genannten Dosen oder Placebo. Zusätzlich wurden die Teilnehmer aller Gruppen mit sekundärtherapeutischen Medikamenten wie Statinen, ASS oder Betablockern behandelt. Die durchschnittliche Beobachtungsdauer betrug 3,5 Jahre.

 

In den Gruppen mit Folsäure/Vitamin B12 und der Dreifachkombination sank der Homocysteinspiegel im Blut erwartungsgemäß um etwa 28 Prozent, während er bei Placebo- und alleiniger Vitamin-B6-Gabe unverändert blieb. Einen Einfluss auf das kardiovaskuläre Risiko hatte die Höhe der Homocysteinwert allerdings nicht. Herzinfarkte oder Schlaganfälle traten in der Placebogruppe genauso häufig auf wie in der Vitamin-B6- und der Folsäure/Vitamin-B12-Gruppe ­ nämlich bei etwa 18 Prozent der Probanden. Sogar noch höher (23 Prozent) lag das Risiko in der Gruppe, die die Dreifachkombination erhalten hatte. Bei diesen Teilnehmern fanden die Forscher außerdem einen Trend zu erhöhtem Krebsrisiko, der jedoch nicht signifikant war.

 

»Hohe Vitamin-B-Dosen sollten nicht verschrieben werden, um Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorzubeugen, sondern nur für Patienten mit einem Vitaminmangel«, sagte Dr. Kaare Harald Bønaa von der Tromsø Universität in Norwegen. »Die Homocystein-Hypothese ist tot«, lautete sein Urteil in Stockholm. Ganz anders sehen das jedoch Experten der D.A.CH.-Liga Homocystein. Sie warnen vor voreiligen Schlussfolgerungen, da die Ergebnisse der Studie nur eine zweifelhafte Aussagekraft besäßen.

 

Die zu Grunde liegende Annahme, dass eine Senkung der Homocysteinwerte zu einer Risikominderung von 20 Prozent führen würde, sei vermutlich zu hoch. Dies gelte nur für ein erstmaliges Ereignis ohne Vorbehandlung. Bei Myokardinfarktpatienten hätten sich die Gefäße aber schon über Jahre pathologisch verändert. Die Effektivität einer B-Vitamin-Behandlung als Sekundärprophylaxe sei weitaus geringer als in der Primärprävention.

 

Außerdem erhielten die Studienteilnehmer Standardmedikamente, was es noch erschwere, einen additiven Effekt der Vitamine nachzuweisen, schreibt die D.A.CH.-Liga Homocystein in einer Erklärung. Hierfür sei die Anzahl der Studienteilnehmer deutlich zu klein gewesen. Berechnungen von David Wald, Experte am Wolfson Institute of Preventive Medicine in London, zeigen, dass für den Nachweis eines Effekts von Vitaminen in der Sekundärprävention Daten von mindestens 20.000 Probanden über einen Beobachtungszeitraum von fünf Jahren notwendig sind. Die NORVIT-Studie sei somit nicht statistisch aussagekräftig.

 

Ein weiterer Kritikpunkt der Liga ist, dass normale Homocysteinwerte kein Ausschlusskriterium in der Studie waren. Etwa 30 Prozent der Teilnehmer hatten vor Studienbeginn bereits Vitaminpräparate eingenommen. Eventuell hatte nur ein kleiner Teil der Probanden tatsächlich Vitaminmangel und hätte von der Prophylaxe profitieren können. Weiterhin merkt die D.A.CH.-Liga Homocystein an, dass sich etwa 50 Prozent der Rezidive in den ersten drei Monaten der Untersuchung ereigneten. Es sei unwahrscheinlich, dass sich ein positiver Effekt der Prophylaxe schon so kurzfristig zeige. In dieser ersten akuten Phase senkte die Vitamingabe die Risikorate nicht, sondern erhöhte sie im Fall der Dreifachkombination sogar geringfügig (23 gegenüber 18 Prozent). Ein Jahr nach dem Infarkt waren zwischen den einzelnen Gruppen allerdings keine Unterschiede mehr zu beobachten. Eine Folgerung aus der NORVIT-Studie könnte daher sein, dass Patienten mit akutem Myokardinfarkt keine hohen Vitamindosen erhalten sollten. Die Dosierung der B-Vitamine war im Studiendesign erheblich zu hoch gewesen. So war Folsäure zweifach, Vitamin B6 20fach und Vitamin B12 sogar 200fach überdosiert gewesen, im Vergleich zu üblichen Empfehlungen.

 

Gegen die Äußerung Bønaas, Vitamine könnten die Krebsentstehung fördern, wehrt sich die D.A.CH.-Liga besonders. Denn die Zahl der Malignome in der Gruppe, die alle drei Vitamine erhalten hatten, war zwar erhöht, aber nicht statistisch signifikant. Der Unterschied könnte somit rein zufällig sein. Außerdem wäre die Studie gar nicht dafür geeignet gewesen, die Krebsentstehung zu untersuchen. Um Malignome auf die Vitamingabe zurückführen zu können, müssten auftretende Tumoren erst ein bis zwei Jahre nach Studienbeginn und nicht im gesamten Untersuchungszeitraum erfasst werden.

 

»Die Ergebnisse der NORVIT-Studie erfordern eine Konkretisierung der Homocystein-Hypothese, sie sind aber keinesfalls geeignet, diese glaubwürdig zu verwerfen«, schreibt die Organisation in einem Kommentar. So müsse der Nutzen der Vitamin-B-Gabe nach einem Herzinfarkt überdacht werden, doch der Nutzen der Primärprophylaxe bleibt von den Studienergebnissen unberührt. Einen deutlichen präventiven Effekt einer Folsäuregabe hätten die Daten belegt, die seit der gesetzlich vorgeschriebenen Anreicherung von Folsäure in Grundnahrungsmitteln in den USA und Kanada erhoben wurden. Nach Angaben der amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention sank die Anzahl der Todesfälle durch Herzinfarkt oder Schlaganfall nach Einführung der Supplementierung im Jahr 1998 um etwa 48.000 pro Jahr.

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