Unterschätzt bei Krebserkrankungen |
25.11.2015 09:34 Uhr |
Von Hannelore Gießen, München / Krebserkrankungen gehen häufig mit einer Mangelernährung einher. Frühe Stadien werden bisher kaum wahrgenommen, dabei sollte eine Tumorkachexie möglichst früh behandelt werden. So lautete das Fazit beim Update Ernährungsmedizin 2015 in München.
»Schon bei Klinikaufnahme sind fast 50 Prozent aller Tumorpatienten mangelversorgt«, berichtete Professor Dr. Marc Martignoni vom Münchner Klinikum rechts der Isar. Mangelernährung sei bei einer Tumorerkrankung jedoch ein wichtiger prognostischer Faktor, betonte der Chirurg bei der Veranstaltung des Zentralinstituts für Ernährungs- und Lebensmittelforschung. Dies treffe nicht nur auf gastrointestinale Tumoren zu, sondern auch auf Lungen- oder Brustkrebs, bei denen man es zunächst nicht erwarten würde.
Eine Mangelernährung beeinträchtigt schon in einem frühen Stadium zahlreiche Funktionen des Organismus: die Muskelkraft sinkt, Wunden heilen schlechter und die Erholung verläuft verzögert. Viele Patienten brauchen mehr als ein Jahr, um nach einer Operation wieder ihr präoperativ stabiles Gewicht zu erlangen. Erstrebenswert sei jedoch eine Stabilisierung des Gewichts innerhalb von drei Monaten, berichtete Martignoni. Das könne bereits einen deutlichen Überlebensvorteil, zum Beispiel für Patienten mit Bauchspeicheldrüsenkrebs, bedeuten.
Defizit mit Folgen
Ein Ernährungsdefizit zieht jedoch nicht nur eine geringere körperliche Leistungsfähigkeit und eine verminderte Immunabwehr nach sich, sondern die Patienten tolerieren eine antitumorale Therapie auch wesentlich schlechter. Eine Mangelernährung würde nach einer Operation zu mehr Komplikationen und einem längeren Aufenthalt im Krankenhaus führen, erläuterte der Chirurg. Auch unter gesundheitsökonomischen Aspekten stelle ein nicht erkanntes und behandeltes Ernährungsdefizit ein erhebliches Problem dar.
Ein wesentliches Kriterium für eine Mangelversorgung ist ein Gewichtsverlust von mindestens 5 Prozent innerhalb von drei Monaten. Die amerikanische Gesellschaft für parenterale und enterale Ernährung (ASPEN) nennt als weitere Kriterien eine ungenügende Nahrungsaufnahme, Flüssigkeitsansammlungen im Körper sowie ein Verlust an Muskelmasse, subkutanem Fett und körperlicher Leistungsfähigkeit. Sind zwei dieser sechs Kriterien erfüllt, liege bereits eine Mangelversorgung vor, erklärte Martignoni. Auch ein normalgewichtig erscheinender Patient könne unter einem beeinträchtigten Ernährungszustand leiden.
Im Krankenhaus wird der Ernährungszustand standardmäßig anhand des »Nutritional Risk Score (NRS-2002)« ermittelt. Um den Grad einer Mangelernährung präziser einschätzen zu können, müsse die Zusammensetzung des Körpers erfasst werden, sagte der Arzt. Dazu eigne sich eine Bioimpedanzanalyse, die den fettfreien Anteil der Körpermasse ermittelt. In Zukunft werde auch ein Computerschnittbild im Lendenbereich mit herangezogen, das oft in ein ohnehin notwendiges Computertomogramm integriert werden könne, erläuterte Martignoni.
Entzündungsprozesse und Insulinresistenz
Eine Mangelernährung hat bereits 1857 Florence Nightingale, die Begründerin der modernen Krankenpflege, beobachtet. Doch die zugrunde liegenden pathophysiologischen Mechanismen sind bis heute noch nicht vollständig verstanden. »Wir wissen jedoch, dass der Gewichtsverlust nicht nur die Fettreserven betrifft, sondern ganz besonders auch die Muskulatur«, erklärte Martignoni. Deshalb könnten die Patienten körperlich immer weniger leisten.
Der Stoffwechsel unter einer Mangelernährung unterscheidet sich grundlegend von einem Hungerstoffwechsel. Bei einer gewollten Nahrungskarenz reduziert der Körper seinen Energieumsatz. Der Körper greift in erster Linie die in Kohlenhydraten und Fett gespeicherten Reserven an, um die notwendige Energie zum Erhalt wichtiger Körperfunktionen zu gewinnen.
»Bei einer manifesten Tumorerkrankung laufen dagegen chronische Entzündungsprozesse ab«, ergänzte Privatdozent Dr. Michael Adolph von der Tübinger Universitätsklinik. Charakteristisch für diesen Prozess sei eine Insulinresistenz. Insulin als anaboles Hormon wirke nicht ausreichend, und der Körper könne kaum Proteine aufbauen, Fettdepots bilden oder auch nur kurzfristig Glucosereserven anlegen.
Im Endstadium einer Kachexie steuern vor allem proinflammatorische Zytokine, wie die Interleukine 1,6, 8 und 12 sowie Tumornekrosefaktor-alpha, den pathologischen Prozess. Daneben werden verstärkt Stresshormone und Myostatin freigesetzt, die den Abbau von Muskelprotein induzieren und dessen Synthese hemmen.
Frühe Intervention
»Wir müssen klinische Parameter für eine Mangelernährung finden, um früh intervenieren zu können. In einem späten Stadium können wir dem Patienten kaum noch helfen«, mahnte Martignoni. Außerdem müsse Ernährung immer im Zusammenhang mit Sport gesehen werden. Körperliche Aktivität sei der größte Reiz für die Zunahme an Muskelmasse, betonte der Arzt.
Eine frühe Behandlung von mangelversorgten Patienten ziele darauf ab, den schleichenden, aber kontinuierlichen Gewichtsverlust aufzuhalten und das Gewicht zu stabilisieren. Dies gelinge am besten mit hochkalorischer Kost und mehreren kleinen Mahlzeiten über den Tag verteilt. Reicht das nicht aus, könne man Patienten mithilfe von Supplementen bei Gewicht halten, bevor eine enterale und wenn nötig, auch eine parenterale Therapie begonnen werden, fasste Martignoni zusammen. Die künstliche Ernährung von Patienten zu Hause hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen, da sich die Versorgung immer mehr vom stationären in den ambulanten Sektor verschiebt.
Eine Ernährungstherapie kann durch Medikamente ergänzt werden. Zu den klassisch eingesetzten Pharmaka gehören Glucocorticoide, die den Appetit anregen und die oft getrübte Stimmung aufhellen. Sie wirken jedoch nur begrenzte Zeit. »Als weitere therapeutische Ansätze erproben wir derzeit die Gabe von L-Carnithin sowie den Omega-3-Fettsäuren Docosahexaensäure (DHA) und Eicosapentaensäure (EPA)«, berichtete Martignoni. Sie werden wegen ihrer antientzündlichen Wirkung eingesetzt. /