Was Apotheker leisten können |
28.09.2015 13:02 Uhr |
Von Katja Renner / Polymedikation hat viele Gesichter und löst oft – aber nicht per se – arzneimittelbezogene Probleme aus. Die Begleitung von Patienten mit Polymedikation ist eine Kernkompetenz des Apothekers, die dazu beiträgt, die Arzneimitteltherapiesicherheit zu sichern und die Lebensqualität der Patienten zu erhöhen.
Alte Menschen mit vielfältigen Krankheiten nehmen häufig mehr als fünf Arzneimittel als Dauermedikation ein. In diesen Fällen sprechen Experten von Polymedikation. Diese ist vom Grundsatz her kein Problem. Ein Patient mit mehreren Erkrankungen mag für eine rationale und optimale Therapie acht bis zehn Arzneimittel benötigen, um das Risiko für Komplikationen und Folgeerkrankungen zu minimieren. Dennoch ist Polymedikation risikobehaftet und erfordert ein enges interdisziplinäres Zusammenspiel von Ärzten, Apothekern und Pflegekräften. So können auch Verschreibungskaskaden und Doppelverordnungen vermieden werden.
Be-, zu- und abraten: bei Patienten mit Polypharmazie besonders wichtig
Foto: Shutterstock/Dmitry Kalinovsky
Strenggenommen liegt Polymedikation (Synonyme: Polypharmazie, Multimedikation, Mehrfachverordnung) vor, wenn ein Patient parallel mehrere Medikamente einnimmt. Mit der Anzahl der Medikamente steigt das Risiko für arzneimittelbezogene Probleme (ABP), beispielsweise von Neben- und Wechselwirkungen (1). Diese Definition umfasst also nicht die konkrete Anzahl an Medikamenten.
Die eindeutige Begrifflichkeit steht weiterhin in der Diskussion. So wird auch die Verordnung mehrerer Arzneistoffe pro Indikation oder die Anwendung von Medikamenten ohne Behandlungsgrund als Polymedikation bezeichnet. Werden Arzneimittel zur Linderung unerwünschter Wirkungen anderer Arzneimittel verordnet (Verschreibungskaskade), ist das ebenfalls eine Form der Polymedikation (2). In vielen Projekten gilt als Einschlusskriterium für Medikationsanalysen die Anwendung von fünf oder mehr systemisch wirkenden Medikamenten zum Dauergebrauch als Richtgröße (3).
Aufmerksam sein
Polymedikation beschränkt sich nicht auf Patienten über 65 Jahre, auch wenn sie bei dieser Gruppe am häufigsten auftritt. Sie kann Apothekern auch bei jungen Menschen begegnen – dafür sollten diese sensibilisiert sein. Die folgenden Fallbeschreibungen sollen die Vielfältigkeit und die individuellen Situationen, in denen sich Patienten mit Polymedikation befinden, dar- stellen und ein strukturiertes Vorgehen zeigen.
Apotheker haben die besten Voraussetzungen, um ABP zu identifizieren und zu lösen:
Fallbeispiel 1: Stillende Frau mit Mastitis
Die junge Frau Tina U. hat vor drei Monaten ihre Tochter entbunden, die sie noch komplett stillt. Aktuell leidet sie unter einer Mastitis mit schmerzhafter geschwollener Brust, entzündeter Brustwarze und leichtem Fieber von 37,9 °C. Sie bringt eine Verordnung über Cefuroxim 500 mg von ihrem Gynäkologen in die Apotheke. Seit drei Wochen verhütet sie mit der Estrogen-freien Pille Cerazette®. Tina U. fragt besorgt, ob die Pille parallel zum Antibiotikum angewendet auch sicher sei. Sie nehme regelmäßig Schilddrüsenhormone zur Behandlung einer Schilddrüsenunterfunktion und Eisentabletten zur Besserung ihrer niedrigen Eisenwerte. Außerdem klagt sie über starke Stimmungsschwankungen. Sie fühle sich stark belastet in ihrer neuen Mutterrolle, vor allem wegen der aktuellen Stillprobleme. Sie möchte dagegen Johanniskraut probieren. Um systematisch zu beraten, erstellt die Apothekerin auf Grundlage der Informationen der Patientin eine Medikationsliste (Tabelle 1) und notiert die objektiven Daten (Kasten).
Welche Therapieziele und Wünsche hat Tina U.?
Diagnosen (laut Patientin)
Laborwerte (gemäß Mutterpass sechs Wochen nach der Entbindung)
Hb-Wert: 10,5 g/dl (Referenzwert > 12 bis 16 g/dl)
BZ nüchtern: 89 mg/dl (Referenzwert 55 bis 115 mg/dl)
Vitalparameter
Alter: 28 Jahre
Blutdruck: 125/75 mmHg
Körpergröße: 172 cm
Körpergewicht: 78 kg
Fieber: 37,8 °C
Analyse und Identifikation von ABP
Indikation und Einnahme
Die Patientin kennt sich mit der Indikation und der Art der Einnahme ihrer Medikamente aus.
Dosierung und Einnahmezeitpunkt
Die Schilddrüsentablette nimmt die Frau 30 Minuten vor, das Eisen-haltige Arzneimittel etwa eine halbe Stunde nach dem Frühstück. Laut Fachinformation Ferro sanol duodenal 100 mg Hartkapseln® (4) sollen die mit magensaftresistenten Mikropellets gefüllten Hartkapseln unzerkaut mit ausreichend Wasser geschluckt werden. Die Apothekerin erklärt ihr, dass die Einnahme entweder morgens nüchtern (etwa eine Stunde vor dem Frühstück) oder in ausreichendem Abstand von etwa zwei Stunden vor oder nach einer Mahlzeit erfolgen sollte. Bei ausgeprägtem Eisenmangel beträgt die Tagesdosis für einen Erwachsenen 200 mg. Tina U. hat die Dosis wegen Verstopfung auf einmal täglich 100 mg reduziert. Aufgrund des in der Stillzeit erhöhten Tagesbedarfs an Eisen (5) ist eine Substitution bei den vorliegenden Eisenwerten sinnvoll und angezeigt; über die Dosierung sollte der Arzt entscheiden.
Interaktionscheck nach ABDA-Datenbank
Die Apothekerin überprüft die angegebene Medikation inklusive dem von der Patientin gewünschten Johanniskraut-Präparat.
Johanniskraut und Desogestrel
Johanniskraut wird über Cytochrom P450 3A4 metabolisiert, ist ein CYP-Induktor und beeinflusst das p-Glykoprotein. Der aktive Metabolit von Desogestrel, Etonogestrel, wird von CYP3A4 metabolisiert. Entsprechende Wechselwirkungen mit Johanniskraut-haltigen Arzneimitteln sind möglich. CYP-Induktoren können die kontrazeptive Wirksamkeit von Desogestrel potenziell verringern (6).
Johanniskraut und L-Thyroxin
Auch der Abbau von Schilddrüsenhormonen wie Levothyroxin und Liothyronin kann durch die CYP-Enzyminduktoren – hier Johanniskraut – derart beeinflusst werden, dass die Konzentration an Schilddrüsenhormon im Blut sinkt. Die Konsequenz könnte eine Verstärkung der Hypothyreose sein.
Cefuroxim und Desogestrel
Nur wenn unter der Antibiotika-Therapie Durchfall oder Erbrechen auftreten, besteht die Gefahr einer Wirkungsminderung der Desogestrel-haltigen Pille. Cefuroxim beeinträchtigt die Metabolisierung von Desogestrel nicht.
Eisen und L-Thyroxin
Bei der gleichzeitigen Einnahme von polyvalenten Kationen und L-Thyroxin können sich im Magen-Darm-Trakt schwerlösliche Chelatkomplexe bilden, die die Resorption der Schilddrüsenhormone beeinträchtigen. Eine mögliche Folge sind unzureichende Hormonkonzentrationen im Blut und damit eine Verstärkung der Symptome einer Hypothyreose.
Wirkstoff | Stärke | Dosierung | Indikation |
---|---|---|---|
Desogestrel | 75 µg | 0-0-1 | Verhütung |
Fe-II-glycin-sulfat- Komplex | 100 mg | 1-0-0 | Eisenmangelanämie |
L-Thyroxin | 50 µg | 1-0-0 | Hypothyreose |
Cefuroxim | 500 mg | 1-0-1 | Mastitis |
Leitlinien/Therapie
Gemäß der vorhandenen Informationen ist die Therapie der Erkrankungen leitliniengerecht. Laut Leitlinie zur Therapie der Mastitis (7) ist Cefuroxim ein in der Stillzeit geeignetes Antibiotikum. Während der Therapie darf die Frau weiterhin stillen. Ebenso wird Desogestrel zur Verhütung in der Stillzeit empfohlen (8).
Nebenwirkungen
Stimmungsschwankungen und Symptome einer depressiven Episode werden als häufige Nebenwirkungen unter Desogestrel beschrieben (9). Diese Symptome können aber auch die Folge postnataler Hormonschwankungen, einer erhöhten psychischen Belastung oder einer hypothyreotischen Hormonlage sein.
Adhärenz
Tina U. äußert starke Vorbehalte gegenüber der Antibiotika-Einnahme in der Stillzeit und sorgt sich, ob die kontrazeptive Wirkung von Desogestrel auch gesichert ist.
Maßnahmen im Gespräch mit der Patientin
Zu unterscheiden sind Maßnahmen, die mit der Apothekerin und die im Gespräch mit dem Arzt festgelegt werden.
Die Apothekerin rät der Frau von dem gewünschten Johanniskraut-haltigen Arzneimittel aufgrund der möglichen Wechselwirkungen ab, zumal die Ursachen für die Beschwerden vielschichtig sein können. Zum Beispiel könnten niedrige Schilddrüsenhormone eine Rolle spielen. Sie empfiehlt einen Arztbesuch zur genaueren Abklärung. Einfühlsam gibt sie Tipps zur Entspannung und Entlastung der Brust. Außerdem sollte Tina U. Kontakt zu ihrer Hebamme aufnehmen, um weitere Unterstützung rund um das Stillen zu bekommen. Die Apothekerin betont die sichere unbedenkliche Einnahme des Antibiotikums, um die Adhärenz zu erhöhen. Sie weist darauf hin, dass die Wirkung der Pille nur gefährdet sei, wenn unter der Antibiotikatherapie Erbrechen und Durchfall auftreten. Dann seien andere Verhütungsmaßnahmen zu ergreifen. Um die Interaktion von Eisen und L-Thyroxin zu umgehen, wird die Einnahme der Eisentablette morgens um 10 Uhr vereinbart. So kann Tina U. ein Zeitintervall von zwei bis drei Stunden zum Schilddrüsenhormon einhalten. Frühestens zwei Stunden später sollte sie wieder etwas essen. Die Apothekerin weist zudem auf mögliche Interaktionen mit Tee und Kaffee hin. Ob die eigenmächtige Halbierung der Eisendosis angemessen ist, sollte der Arzt nach Überprüfung des Eisenspiegels entscheiden.
Mit dem Arzt zu klären
In einem Berichtsbogen für den Gynäkologen beschreibt die Apothekerin nach Einwilligung der Patientin die Beschwerden und potenziellen ABP (Abbildung). Sie empfiehlt die Überprüfung der Schilddrüsen- und Eisenwerte und bittet um ärztliche Reflektion der Desogestrel-Verordnung. Sie dokumentiert die mit Tina U. besprochenen Maßnahmen.
Follow-up und Fazit
Wie vereinbart, berichtet Tina U. beim nächsten Apothekenbesuch über die Ergebnisse des Arztbesuchs.
Das Antibiotikum war erfolgreich, die Stillproblematik wurde mit Unterstützung einer Hebamme gelöst. Da tatsächlich niedrige Schilddrüsenwerte festgestellt wurden, setzte der Arzt die Dosis auf 75 µg L-Thyroxin pro Tag hinauf.
Medikamente zu festen Zeiten einzunehmen, hilft Interaktionen zu vermeiden.
Foto: Shutterstock/anaken2012
Seitdem haben sich auch Müdigkeit und Antriebslosigkeit verbessert. Durch bessere Organisation der Kinderbetreuung habe sie mehr psychische Auszeiten und Entspannungsphasen, sagt Tina U. Die depressive Symptomatik hat sich zwei Monate nach dem Apothekenbesuch gelegt. Das Eisenpräparat wurde zunächst wieder auf 200 mg pro Tag erhöht – Einnahme um 10 Uhr und um 16 Uhr. Die erneut auftretende Obstipation konnte Tina U. mit Flohsamenschalen lindern. Durch die Intervention der Apothekerin wurde die Adhärenz bezüglich des Antibiotikums verbessert und die Brustenzündung erfolgreich therapiert. Die Patientin konnte weiter stillen. Die Ursache der depressiven Verstimmung wurde diagnostiziert und durch Neueinstellung der Schilddrüsenhormone behoben. Die Dokumentation der identifizierten ABP erleichterte die Zusammenarbeit zwischen Arzt und Apotheker.
Fallbeispiel 2: Seniorin mit Harnwegsinfekt
Die Stammkundin Johanna K., 68 Jahre alt, bringt ein Rezept vom Gynäkologen über Cotrimoxazol forte in die Apotheke. Sie klagt über einen Harnwegsinfekt. Bei der Eingabe leuchtet der Interaktionsknopf im Computer. Die Interaktion mit dem Dauermedikament Citalopram – Achtung QT-Zeit-Verlängerung – erscheint. Zur Beurteilung der Relevanz lässt sich die Apothekerin Informationen zur sonstigen Medikation und individuellen Situation der Patientin geben.
Subjektive Daten: Nach einem leichten Herzinfarkt vor zwei Jahren achtet die Patientin sehr auf ihre Gesundheit, geht zur Kardiosportgruppe und hat 5 kg abgenommen. Sie befolgt die Einnahmeempfehlungen des Arztes sehr genau. Seit dem Herzinfarkt leidet sie jedoch unter Ängsten und Stimmungsschwankungen, die seit sechs Monaten mit Citalopram behandelt werden. Seitdem geht es besser. Johanna K. klagt über Schlafstörungen und nimmt dagegen ein Schlafmittel, das sie sich gekauft hat (Tabelle 2 und Kasten).
Diagnosen (laut Patientin)
Vitalparameter
Alter: 68 Jahre
Blutdruck: 135/85 mmHg
Körpergröße: 165 cm
Körpergewicht: 69 kg
Analyse und Identifikation von ABP
Indikation, Einnahme, Dosierung
Die Patientin kennt sich mit der Indikation und der Einnahme ihrer Medikamente aus. Die Dosierungen sind gemäß der beschriebenen Diagnosen angemessen und plausibel.
Interaktionscheck
Die Apothekerin prüft die Medikation inklusive des neu verordneten Cotrimoxazol-forte-Präparats.
Citalopram – Diphenhydramin – Cotrimoxazol
Die Kombination mehrerer Wirkstoffe, die die Entwicklung eines arzneimittelinduzierten LQT-Zeit-Syndroms beeinflussen, ist für Risikopatienten (Tabelle 3) nicht zu empfehlen. Es besteht die Gefahr von Tachyarrhythmien vom Typ Torsade de pointes (TdP), die auf einer Repolarisationsverlängerung (im EKG als QT-Zeit-Verlängerung erkennbar) beruhen. Eine aktuelle Übersicht über weitere Arzneistoffe mit dieser unerwünschten Wirkung ist unter www.azcert.org zu finden.
Citalopram – ASS
Gastrointestinale Beschwerden sind möglich; die Blutungsneigung ist erhöht.
Leitlinien/Therapie
Gemäß der Informationen ist die Therapie der Erkrankungen leitliniengerecht.
Nebenwirkungen
Die Dauermedikamente werden gut vertragen.
Adhärenz
Die Einnahme der Torasemid-Tablette am Morgen wird ab und zu »vergessen«. Johanna K. lässt das Diuretikum weg, wenn sie vormittags unterwegs ist und nicht sicher weiß, wo die nächste Toilette ist.
Wirkstoff | Stärke | Dosierung | Indikation |
---|---|---|---|
Torasemid | 5 mg | 1-0-0 | Entwässerung |
Lisinopril | 10 mg | 1-0-0 | Blutdruck/Herzmedikament |
Bisoprolol | 5 mg | 1-0-0 | Blutdruck/Herzmedikament |
ASS | 100 mg | 1-0-0 | Blutverdünnung |
Metformin | 850 mg | 1-0-1 | Senkung Blutzuckerspiegel |
Citalopram | 20 mg | 0-0-1 | Verstimmung |
Diphenhydramin | 50 mg | 0-0-1 | Zum Schlafen |
Maßnahmen
Die Apothekerin entscheidet, dass die Interaktion von Citalopram und Cotrimoxazol aufgrund der individuellen Situation der Patientin eine sofortige Rücksprache mit dem Arzt erfordert. Sie schlägt dem Arzt den Wechsel des Antibiotikums zu Fosfomycin-Trometamol vor.
Rücksprache mit dem Arzt
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Der Gynäkologe kannte die Krankheitshistorie und Medikation der Patientin nur unvollständig, sodass er die Empfehlung der Apothekerin positiv aufnahm. Zur Verbesserung der Schlafstörungen rät die Apothekerin, Citalopram morgens einzunehmen und von Diphenhydramin auf ein Baldrian-Präparat umzusteigen. Zusätzlich wird das Thema Schlafhygiene besprochen. Um die Adhärenz der Diuretika-Therapie zu steigern, soll die Patientin das Medikament an Vormittagen, an denen sie etwas unternimmt, erst mittags anwenden. Diese Absprache wird auf dem Medikationsplan der Patientin zur Rücksprache mit dem Hausarzt vermerkt.
Fazit
Es gibt Patienten mit Polymedikation, bei denen die Medikation auf den ersten Blick plausibel und unproblematisch erscheint. Werden jedoch Selbstmedikation und Verordnungen durch andere Ärzte hinterfragt, treten häufig ABP auf. Dieser Fall zeigt sehr gut, dass es fast immer therapeutische Alternativen – hier ein anderes Antibiotikum – zur Vermeidung oder Reduktion von ABP gibt.
Fallbeispiel 3: Verschreibungskaskade
Josef O., 69 Jahre alt, möchte das Angebot der Medikationsanalyse annehmen (Fallbeispiel nach PharmD Ina Richling). Er leidet unter ständigem Husten und hat schon viele Medikamente erfolglos probiert. Auch vom Hausarzt bekommt er immer neue Arzneimittel und »nichts hilft wirklich«. Zum verabredeten Termin bringt er alle Medikamente mit, die er zurzeit einnimmt. Er hat keinen Medikationsplan. Der Apotheker erstellt eine Medikationsliste (Tabelle 4) und erfasst die subjektiven und objektiven Daten des Patienten (Kasten).
Welche Therapieziele und Wünsche hat Josef O.? Vorrangig sind eine erfolgreiche Behandlung des Hustens und eine Besserung der Leistungsfähigkeit. Gerne möchte der Patient »weniger Medikamente« einnehmen.
Subjektive Beschwerden
Trockener Husten, Luftnot unter Anstrengung, zurzeit sogar nachts, Mundsoor
Objektive Daten (Diagnosen laut Patient)
Laborwerte
liegen nicht vor
Vitalparameter
Alter: 69 Jahre
Blutdruck: 145/85 mmHg
Körpergröße: 178 cm
Körpergewicht: 71 kg
Sonstiges
Bis vor zehn Jahren Raucher (20 pack years), seit Kindesalter allergisch gegen Gräser
Identifikation arzneimittelbezogener Probleme
Indikation
Eine genaue Diagnose liegt nicht vor: Hat der Patient tatsächlich Asthma bronchiale und/oder COPD? Josef O. kennt den Behandlungsgrund für Prednisolon und Montelukast nicht. Pantoprazol nehme er nicht gegen Sodbrennen, sondern gegen den asthmatischen Husten.
Dosierung, Einnahmezeitpunkt und Anwendung
Mit Dosierung und Einnahmezeitpunkt gibt es keine Probleme. Die Inhalationstechnik wird beherrscht. Nach der Inhalation mit Budesonid hat der Patient den Mund bisher nicht ausgespült. Bei der Diagnosestellung des Mundsoors habe der Arzt ihn darauf hingewiesen.
Arzneimittel der Selbstmedikation
Der Arzt ist über die Einnahme der beiden Mukolytika nicht informiert. Der Patient gibt ein subjektiv leichtes Besserungsgefühl an. Der Apotheker rät, zunächst die Ambroxol-Tabletten aufzubrauchen und dann die ACC-Brausetabletten weiter zu nehmen, den Arzt aber zu informieren.
Leitlinien/Therapie
Die Beurteilung der Therapie gemäß der Leitlinien (Asthma/COPD) ist ohne korrekte Diagnosen nur begrenzt möglich. Der therapeutische Erfolg stellt sich auch nach Intensivierung der Medikation nicht ein.
Nebenwirkungen
Eine häufige Nebenwirkung von ACE-Hemmern ist der trockene Bradykinin-induzierte Reizhusten. Josef O. erklärt, dass er vor etwa einem Jahr das Blutdruckmittel von seinem ehemaligen Arzt erhielt und der Husten seitdem schlimmer wurde. Inhalative Glucocorticoide wie Budesonid können die Entstehung eines Mundsoors begünstigen. Da der Patient angibt, nach der Inhalation nicht den Mund zu spülen, liegt der Verdacht auf eine unerwünschte Arzneimittelwirkung nahe.
Risikofaktoren | Beispiele |
---|---|
patientenbezogen | weiblich, genetische Disposition, fortgeschrittenes Lebensalter, Verlängerung der QT-Zeit im EKG |
kardiovaskuläre Vorerkrankungen | Bradykardie, AV-Block, Herzinfarkt, Herzinsuffizienz, Herzhyperthrophie |
Elektrolyt- störungen | Hypokaliämie, Hypomagnesiämie, Hypocalciämie (auch infolge von Erbrechen, Diarrhö oder Diuretika-Einnahme) |
Arzneistoffe | Polymedikation generell, Digitalis, hohe Dosen oder Kombinationen oder rasche intravenöse Infusion von QT-Zeit verlängernden Wirkstoffen |
Maßnahmen
Der Apotheker vermutet, dass hier eine Verschreibungskaskade vorliegt. Die Angaben des Patienten, er sei Allergiker mit Raucherhistorie, deuten auf ein »Asthma COPD Overlap Syndrom« (10) hin. Eine klare Diagnosestellung und medikamentöse Einstellung durch einen Facharzt wird empfohlen.
Die intensivierte antiasthmatische Therapie mit inhalativen und systemischen Glucocorticoiden sowie dem Leukotrien-Rezeptorantagonist Montelukast hat keine Besserung bewirkt. Pantoprazol zur Reduktion möglicher Refluxsymptome als Auslöser des Hustens war ebenfalls erfolglos. Bei Überprüfung der sonstigen Angaben des Patienten fällt auf, dass sich der Hustenreiz nach Einführung von Enalapril in die Therapie verschlimmert hat. Es könnte eine Verschreibungskaskade vorliegen, bei der das Leitsymptom Husten auf die Lungenerkrankung zurückgeführt und entsprechend intensiv therapiert wurde.
Der Apotheker spricht mit dem Arzt und schlägt einen Umstellungsversuch auf ein Sartan vor, um auszuschließen, dass der Reizhusten eine Nebenwirkung von Enalapril ist. Er trägt die aufgenommenen Medikamente und die vom Patienten erhaltenen Informationen (Tabelle 4) in einen Berichtsbogen ein und bittet um ein Feedback.
Wirkstoff | Stärke | Dosierung |
---|---|---|
Budesonid Easyhaler | 0,2 mg | 2-0-2 |
Formoterol Novolizer | 12 µg | 1-0-1 |
Salbutamol DA | 0,1 mg | bei Bedarf |
Ambroxol | 75 mg | bei Bedarf |
Acetylcystein | 600 mg | 1 Brausetabl. morgens |
Prednisolon | 10 mg | 1-0-½ |
Montelukast | 10 mg | 0-0-1 |
Pantoprazol | 40 mg | 1-0-0 |
Simvastatin | 40 mg | 0-0-1 |
ASS | 100 mg | 1-0-0 |
Enalapril | 5 mg | 1-0-0 |
Paracetamol | 500 mg | bei Bedarf |
Neu: Nystatin Mundgel | 100.000 IE/g | 3- bis 6-mal täglich |
Follow-up
Nach sechs Wochen kommt Josef O. mit geänderter Medikation zurück. Der Verdacht des Apothekers hat sich erhärtet. Pneumologe und Hausarzt haben sich abgestimmt und die Therapie geändert. Nach Umstellung auf den AT1-Antagonisten Valsartan ist der Hustenreiz abgeklungen, der Patient schläft besser und die Medikation ist deutlich reduziert (Tabelle 5).
Fazit
Wenn verschiedene Erkrankungen vorliegen, die ähnliche Symptome zeigen wie unerwünschte Wirkungen einzelner Arzneimittel, kann sich leicht eine Verschreibungskaskade entwickeln. In diesem Fall hat der ACE-Hemmer-induzierte Husten die Kaskade in Gang gesetzt. Josef O. ist sehr zufrieden, dass er jetzt weniger Medikamente braucht und der Husten »trotzdem« gemildert ist.
Wirkstoff | Stärke | Dosierung |
---|---|---|
Budesonid Easyhaler | 0,2 mg | 1-0-1 |
Formoterol Novolizer | 12 µg | 1-0-1 |
Salbutamol DA | 0,1 mg | bei Bedarf |
ASS | 100 mg | 1-0-0 |
Valsartan | 80 mg | 1-0-0 |
Simvastatin | 40 mg | 0-0-1 |
Paracetamol | 500 mg | bei Bedarf |
Heilberufliche Kompetenz
In den drei Beispielfällen wird deutlich, dass Polymedikation täglich in vielen Facetten erlebbar ist. Mit pharmazeutischem Sachverstand und kommunikativem Fingerspitzengefühl lassen sich ABP von Arzt und Apotheker im interdisziplinären Austausch lösen. Apotheker sollten sich als eine wichtige Fehlerbarriere und als Schutzfaktor im Medikationsprozess verstehen. Es ist eine apothekerliche Aufgabe, Verantwortung zu übernehmen und heilberuflich zu agieren – hin zur patientenorientierten Pharmazie. /
Literatur
Katja Renner studierte Pharmazie an der Rheinischen Friedrich Wilhelm Universität, Bonn, und wurde an der Universität Köln promoviert. Seit 1996 ist sie in öffentlichen Apotheken tätig. Sie arbeitet seit 2000 als Dozentin für verschiedene Apothekerkammern und die ABDA. Ihr Schwerpunkt ist die praxisnahe Fortbildung zu Themen wie Depression, Kinder- oder Atemwegserkrankungen sowie zu Arzneimitteln in der Schwangerschaft. Sie ist Mitglied des Fort- und Weiterbildungsausschusses der Apothekerkammer Nordrhein und gehört zum Projektteam von ATHINA. Dr. Renner veröffentlichte zahlreiche Artikel in Fachzeitschriften und ist Buchautorin.
Dr. Katja Renner
Patersgraben 9
41849 Wassenberg
E-Mail: k.k.renner@t-online.de