Netzwerke zwischen Forschern ausbauen |
27.09.2011 16:57 Uhr |
Von Brigitte M. Gensthaler und Hannelore Gießen, Innsbruck / Deutsche und österreichische Universitäten verfügen über herausragende pharmazeutische Forschungsschwerpunkte. Dies wurde auf der gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Pharmazeutischen Gesellschaft und der Österreichischen Pharmazeutischen Gesellschaft mehr als deutlich.
»Die Zukunft gestalten« hieß das Motto der diesjährigen Jahrestagung der Deutschen und Österreichischen Pharmazeutischen Gesellschaft (DPhG und ÖPhG). Vom 21. bis 23. September tauschten Wissenschaftler in Innsbruck ihr Know-how über neue Targets und Trends in der Arzneistoffentwicklung aus.
Neue Erkenntnisse zur Affinität von Wirkstoff und Zielstruktur präsentierte Professor Dr. Gerhard Klebe, Universität Marburg. Als Modell für die Wirkstoffsuche werde häufig das »Schlüssel-Schloss-Prinzip« zitiert. Möglichst genau sollte die Wirksubstanz (Schlüssel) zur Struktur des zu hemmenden Rezeptors oder Enzyms (Schloss) passen, um die größtmögliche Affinität zwischen Ligand und Zielstruktur zu erreichen. Doch dieses Konzept greife zu kurz. Denn es sei durchaus nicht immer ideal, wenn die Substanz komplementär zum Zielprotein ist, erläuterte Klebe. Schmiegt sie sich zum Beispiel nicht vollständig in die Bindungstasche ein, kann sie sich hin- und herbewegen. Dies sei oft günstiger, da die Bindungspartner einen energieärmeren Zustand einnehmen können.
Arzneistoffaffinität müsse als dynamischer Prozess, nicht als statisches Konzept betrachtet werden, führte Klebe aus. Von entscheidender Bedeutung sei es, wie rasch ein Ligand an das Zielmolekül bindet, wie lange er tatsächlich an der Bindungsstelle bleibt und mit welcher Geschwindigkeit er wieder freigesetzt wird.
Komplexe Moleküle können unterschiedlich interagieren. Die Rolle der Wassermoleküle in diesem Prozess werde oft unterschätzt, berichtete Klebe. Bei etwa zwei Dritteln aller Ligand-Protein-Komplexe vermitteln Wassermoleküle die Interaktion zwischen den Bindungspartnern. Mithilfe von Datenbanken könne man die Wahrscheinlichkeit für eine Beteiligung von Wasser an der Ligand-Protein-Interaktion vorhersagen.
Um eine Leitstruktur zu optimieren, müssen sowohl Daten über das energetisch günstigste Zusammenspiel zwischen Arzneistoff und Protein als auch über die im Zeitverlauf wechselnden Interaktionen berücksichtigt werden. »Noch stecken unsere Erfahrungen in den Kinderschuhen«, konstatierte Klebe, der Ende 2010 für seine Forschungen mit dem renommierten »ERC Advanced Investigator Grant« der Europäischen Kommission ausgezeichnet worden war.
Screenen ohne Rezeptormodell
GABAA-Rezeptoren sind die wichtigsten inhibitorischen Rezeptoren im Zentralnervensystem. Sie werden aus jeweils fünf »Bausteinen« gebildet, die verschiedenen Klassen angehören, zum Beispiel der α-, β- oder γ-Untereinheit. Inzwischen kennt man 19 Subtypen aus acht Klassen. »Vermutlich vermitteln die einzelnen Subtypen spezifische Effekte wie Sedierung, Anxiolyse, Muskelrelaxation oder Analgesie«, erklärte Professor Dr. Werner Sieghart, Wien. Möglicherweise könnten einzelne α-Untereinheiten sogar anti-schizophrene Effekte auslösen oder den Lernprozess und das Gedächtnis beeinflussen. Die meisten Arzneistoffe könnten zwischen den Subtypen jedoch nicht differenzieren. Ziel sei es, Stoffe zu entwickeln, die den GABAA-Rezeptor Subtyp-spezifisch modulieren und damit gezielte Wirkungen auslösen.
Da es bis heute keine Kristallstruktur des Rezeptors gibt, entwickelte seine Arbeitsgruppe in komplexen Verfahren virtuelle Modelle von Rezeptoranteilen und Bindestellen. »Damit können wir potenzielle Wirkstoffe virtuell screenen – auch ohne Kristallstruktur«, erklärte der Wissenschaftler. Die Gruppe identifizierte 3-Hydroxy-Oxindole als neue Stoffklasse mit antikonvulsiven Effekten. Zudem entdeckte sie eine neue Andockstelle am Rezeptor. Liganden an dieser Stelle aktivieren den Rezeptor nicht direkt, sondern modulieren dessen Aktivität. Diese Bindestelle ist laut Sieghart ein interessantes Ziel für innovative Arzneistoffe.
Gegen Zirrhose und Diabetes
Gallensäuren binden an nukleäre Rezeptoren wie den Farnesoid-X-Rezeptor (FXR). Zudem modulieren sie G-Protein-gekoppelte Rezeptoren wie den TGR-5. Dadurch greifen sie in grundlegende Prozesse wie die Gallensäureproduktion sowie die Triglyzerid-, Cholesterol-, Energie- und Glucose-Homöostase ein. »Modulatoren von FXR- und TGR-5-Rezeptoren erscheinen daher als Kandidaten zur Behandlung von Leber- und Stoffwechselerkrankungen«, so Professor Dr. Roberto Pellicciari aus Perugia. Vielversprechend seien sie zudem bei metabolischen Krankheiten wie Typ-2-Diabetes.
Pellicciari stellte zwei selektive potente Liganden vor, die seine Arbeitsgruppe in Kooperation mit einer Pharmafirma durch Modifikation von Chenodesoxycholsäure entwickelte. INT-747 (Obeticholinsäure) ist der erste Vertreter der Klasse der FXR-Agonisten und konnte im Tierversuch eine bestehende Fibrose und Leberzirrhose reduzieren. Er wird derzeit in Phase II als Arzneimittel bei Patienten mit primärer biliärer Zirrhose erprobt. Die Suche nach TGR-5/FXR-Liganden führte ferner zu INT-777, berichtete der Wissenschaftler. Dieser Wirkstoff aktiviert vorrangig TGR-5. In Mäusen reduzierte er ebenfalls Fibrosezeichen, bremste einen Gewichtsanstieg und erhöhte signifikant die Freisetzung des Hormons Glukagon-like-Peptide-1 (GLP-1). GLP-1 spielt eine wichtige Rolle bei der Steuerung der Bauchspeicheldrüse und der Regulierung des Blutzuckerspiegels. INT-777 eröffnet laut Pellicciari einen neuen Ansatz zur Behandlung von Typ-2-Diabetes und Übergewicht.
Variable Transporter
In vivo stehen Arzneistoffe vor vielen Hindernissen. »Wie gut sie diese überwinden, hängt von den genetischen Varianten der Transportermoleküle ab« sagte Professor Dr. Heyo Kroemer von der Universität Greifswald. So identifizierten Genomforscher in menschlichen Blutplättchen das Protein MRP4. Dies ist ein Mitglied der Multidrug-Resistance-Proteinfamilie, die physiologische und pharmakologische Moleküle über extra- und intrazelluläre Membranen schleust. In Thrombozyten entscheidet MRP4 über die Aufnahme von Arzneistoffen. Ein Beispiel: Wie gut Patienten auf die thrombozytenaggregierende Wirkung von ASS ansprechen, hängt davon ab, wie viele MRP4-Transporter ihre Blutplättchen bilden.
Auch für Statine konnten variable Transportprozesse nachgewiesen werden. Die Cholesterolsenker werden in der Leber aus dem Blut durch das zu den organischen Anion-Transporter-Polypeptiden (OATP) gehörende OATP1B1 aufgenommen. Liegt OATP1B1 in einer bestimmten genetischen Variante vor, werden weniger Statine in die Leber aufgenommen. Die verhängnisvolle Kombination von Cerivastatin und Gemfibrozil, die zu gravierenden Nebenwirkungen und zur Marktrücknahme von Cerivastatin führte, ist wahrscheinlich auf eine verminderte Aufnahme des Statins in Kombination mit einem verzögerten Abbau zurückzuführen. Solche Unterschiede in Transportern führen zu abweichenden Arzneistoffeffekten, die in einer personalisierten Medizin zunehmend an Bedeutung gewinnen, hob Kroemer hervor. /