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Notfallmedizin

Polypharmazie in der Notaufnahme

30.07.2014  11:01 Uhr

Von Maria Pues, Wiesbaden / Patienten in der Notaufnahme sieht man es häufig nicht unmittelbar an, was den Sturz, die Symptome am Herzen oder die Bewusstlosigkeit verursacht hat. Nicht nur in ihren Vorerkrankungen, sondern auch in den Therapien kann der Verursacher stecken.

Durchschnittlich eine von 20 Notaufnahmen erfolgt aufgrund unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW), also Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten. »In Österreich könnte man allein mit diesen Patienten ein Krankenhaus mit 500 bis 600 Betten füllen«, sagte Dr. Markus Gosch vom Landeskrankenhaus Hochzirl in Österreich auf dem Internistenkongress in Wiesbaden. Für das größere Deutschland müsse man an diese Zahl noch eine Null anhängen. Glücklicherweise bewegt sich der Anteil der tödlich verlaufenden Fälle deutlich unter 1 Prozent. Doch sehr vielen Patienten könnte Leid erspart werden, denn die Hälfte dieser Fälle ließe sich vermeiden.

Risiko steigt mit dem Alter und der Anzahl Arzneien

 

Nicht alle Patientengruppen sind gleichermaßen häufig betroffen. Bei Patienten über 80 Jahren beträgt der Anteil der Einweisungen durch UAW etwa 30 Prozent. Dass das Risiko mit dem Alter zunimmt, ist leicht nachzuvollziehen, denn häufig steigt mit der Zahl der Lebensjahre auch die Anzahl der Komorbiditäten und der angewendeten Arzneimittel. Bei älteren Patienten nimmt zudem die Reserve ab, kritische Situationen kompensieren zu können.

 

Zwei Instrumente könnten Notärzten die Arbeit erleichtern, so Gosch. Zum einen liefert ein aktueller Medikationsplan wichtige Informationen, wenn Mediziner in den Notaufnahmen sich fragen, ob beziehungsweise welche Krankheit oder Therapie der Grund für die Einweisung war. »Der Medika­tionsplan sollte nicht nur die ärztlich verordneten Arzneimittel umfassen, sondern auch die Selbstmedikation«, betonte Gosch. Weitere therapeutisch wichtige Informationen könnte in Zukunft bei manchen Patienten ein zusätzlicher Genpass liefern.

 

»Neben- und Wechselwirkungen kommen nicht durch die von vielen Patienten verdächtigten ›starken Arzneimittel‹ zustande, sondern durch OTC-Arzneimittel, die Patienten ohne ärzt­lichen Rat einnehmen«, erläuterte Gosch am Beispiel der häufig verwendeten nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR). Sie stehen ganz oben auf der Liste der Arzneimittel, die zu einer Noteinweisung führen können. Gosch wies auf das mögliche Risiko für kardiale Ereignisse aufgrund von Hypokali­ämien durch diese Wirkstoffgruppe hin, wenn gleichzeitig ACE-Hemmer oder bestimmte Diuretika angewendet werden. NSAR, Diuretika und Warfarin waren laut einer 2006 veröffentlichten Studie im »British Journal of Clinical Pharmacology« für mehr als die Hälfte der Krankenhauseinweisungen durch UAW verantwortlich (doi: 10.1111/j.1365- 2125.2006.02698.x). Häufigste Diagnosen waren gastrointestinale oder intrakranielle Blutungen und Nierenversagen.

 

Einer weiteren, 1997 im »Journal of the American Geriatric Society« publizierten Studie zufolge wendeten 87 Prozent von mehr als 1000 Befragten mindestens ein und knapp 6 Prozent fünf oder mehr OTC-Arzneimittel an (J Am Geriatr Soc. 45, 1997, 158-165). Ein besonders hohes Risiko für Polypharmazie hätten ältere Frauen mit höherem Bildungsstand und gutem Einkommen, fasste Gosch die Ergebnisse zusammen. Zwei Drittel der Befragten nahmen rezeptfreie Analgetika, knapp 40 Prozent Vitamine und Spurenelemente, knapp 30 Prozent Antacida und fast 10 Prozent Laxanzien ein.

 

Gefährlicher Wechsel

 

Nicht allein die Anzahl der Arzneimittel, sondern auch ein Wechsel der Medikation kann das Risiko für einen Arzneimittel-induzierten Zwischenfall erhöhen. Gosch verwies dazu auf eine weitere Studie, in der Symptome innerhalb der ersten 30 Tage nach einem Therapiewechsel untersucht wurden (doi: 10.1002/nur.20232). Am häufigsten wurden dabei akute Depressionen, Femurfrakturen, Dehydratation, Stürze und Darmblutungen festgestellt. »Allein die Tatsache einer Medikations­änderung sollte Anlass geben, über die Möglichkeit einer UAW nachzudenken«, sagte Gosch.

 

Nicht nur in der Ambulanz der Inneren Medizin müsse an Arzneimittel als Auslöser für eine Noteinweisung gedacht werden, sondern auch in der Unfallambulanz. Denn auch wenn Patienten stürzen oder sich verletzen, können Neben- und Wechselwirkungen eine Rolle spielen. Mit einem Anteil von 10 Prozent seien sie ein beachtenswerter Auslöser. 12 Prozent der eingewiesenen Patienten erhielten poten­ziell inadäquate Medikationen. Gosch verwies auf einen Risikoscore, mit dem sich abschätzen lasse, bei welchen Pa­tienten verstärkt mit einer UAW zu rechnen sei (siehe Tabelle). Dieser sei vor allem bei jüngeren Patienten nützlich, da Ältere häufig ohnehin eine Punktzahl von acht erreichten, ab der sich das Risiko erheblich erhöht.

Faktor Wert
≥ 4 Komorbiditäten 1
Herzinsuffizienz 1
Lebererkrankung 1
Anzahl Arzneimittel:
≤ 5 0
5 bis 7 1
≥ 8 4
vorangegangene UAW 2
Nierenversagen/ -insuffizienz 1

Score zum Abschätzen des UAW-Risikos; ab einer Punktzahl von acht ist das Risiko erheblich erhöht.

 

Auch sinnvoll: ein Genpass

 

Eine sinnvolle Ergänzung zur Medika­tionsliste kann aus Goschs Sicht bei Patienten, die bestimmte Wirkstoffe genetisch bedingt nicht wie die Durchschnittsbevölkerung metabolisieren, ein Genpass darstellen. So könne die Umwandlung des Prodrugs Clopidogrel in seinen aktiven Metaboliten nicht nur durch die Gabe eines Protonenpumpenhemmers unterbunden worden sein, sondern auch durch einen genetischen Polymorphismus, der zu einer verminderten Aktivität des Cytochrom-P-450-Enzyms CYP2C19 führt. Dieses ist an der Aktivierung des Prodrugs maßgeblich beteiligt; Inaktivität führt zu einer Clopidogrel-Resistenz, die einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zur Folge haben kann.

Eine sehr niedrige Herzfrequenz unter 60 Schlägen pro Minute könne arzneilich bedingt bei sogenannten poor metabolizern auftreten, wenn diese beispielsweise Metoprolol einnehmen, erläuterte Gosch weiter. Eine geringere oder fehlende Aktivität des Enzyms CYP2D6, über das auch zahlreiche weitere Arzneistoffe metabolisiert werden, führt zu einem langsameren Abbau des Betablockers. Die übliche Dosis führt bei diesen Patienten zu einer Überdosierung.

 

Besteht der Verdacht, dass Arzneimittelneben- oder -wechselwirkungen die Klinikeinweisung verursacht haben, sollten Mediziner zunächst aufmerksam zuwarten und auf die Gabe weiterer Arzneimittel verzichten, wenn die Vitalwerte des Patienten dies erlaubten, riet Gosch abschließend. /

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