Nachholbedarf |
30.07.2014 11:01 Uhr |
Vor rund zwei Wochen hat Deutschland begeistert die DFB-Elf gefeiert. 400 000 Menschen bejubelten ihre Fußballhelden bei der zentralen WM-Siegesfeier vor dem Brandenburger Tor. Rollstuhlfahrer dürften nur sehr wenige darunter gewesen sein. Denn an behindertengerechte Plätze hatte auf Deutschlands größter Fanmeile schlichtweg niemand gedacht. Verena Bentele ist darüber sehr enttäuscht. Inklusion werde hierzulande immer noch zu wenig gelebt, kritisiert die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung im Interview mit der Pharmazeutischen Zeitung (lesen Sie dazu Inklusion: Andere sind schon weiter als wir).
Tatsächlich stehen wir in vielen Bereichen erst am Anfang einer inklusiven Gesellschaft. Das belegen auch Zahlen der Stiftung Gesundheit, aus denen die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei zitiert (Barrierefreiheit: Jede vierte Praxis birgt Hürden). Nicht einmal jede vierte Allgemeinarzt-Praxis verfügt demnach über einen barrierefreien Zugang. Zahnärzte sind für Menschen mit Handicap noch schwerer zu erreichen. Fünf Jahre nach Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention ist das eine vernichtende Bilanz nicht nur für das deutsche Gesundheitssystem.
Gefragt ist nun zum einen die Politik. Sie muss Ärzten ähnlich strikte Regeln verordnen wie es sie bereits für Apotheken gibt. Die müssen für Rollstuhlfahrer seit Neufassung der Apothekenbetriebsordnung 2012 stets problemlos zugänglich sein. Dass viele Inhaber dadurch zu einem Umbau gezwungen waren, mag die Apotheker damals geärgert haben. Doch heute zahlt es sich aus.
Inklusion heißt aber auch Wertschätzung behinderter Menschen und die lässt sich nicht von oben diktieren. Gegenseitige Anerkennung müssen Menschen mit und ohne Behinderung schrittweise lernen – am besten bereits in der Schule und damit gleich von Anfang an. Als Blaupause könnten Deutschland die skandinavischen Länder dienen. Dort sind Menschen mit Handicap vor allem durch inklusive Bildung bereits ein selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Bis wir auch hierzulande so weit sind, bleibt eine Menge zu tun. Ein kleiner Fortschritt könnte 2016 gelingen – wenn hoffentlich ohne Ausnahme alle Fans gemeinsam die Fußball-Europameisterschaft feiern.
Stephanie Schersch
Ressortleitung Politik & Wirtschaft