Übel unterwegs |
11.07.2018 09:28 Uhr |
Von Kerstin A. Gräfe / Millionen Deutsche leiden bei Auto-, Flug- oder Schiffsreisen an Reiseübelkeit. Da die wirksamen Medikamente überwiegend aus dem OTC-Segment stammen, kann hier ein kompetentes Beratungsgespräch inklusive nützlicher Verhaltenstipps vielen Patienten das Reisen deutlich erleichtern.
Die typische Reisekrankheit ist im medizinischen Sinne keine eigenständige Erkrankung. Vielmehr handelt es sich um Reaktionen des Organismus auf ungewohnte Bewegungs- oder Beschleunigungsreize. Eine Kinetose kündigt sich in der Regel zunächst mit Gähnen, Müdigkeit, leichten Kopfschmerzen und Schwindel an. Kinder werden häufig ungewohnt ruhig und blass. Es folgen kalter Schweißausbruch und ein flaues Gefühl im Magen. Meistens ist es dann schon zu spät, um das Erbrechen zu verhindern.
Lesen, einen Film schauen oder mit dem Smartphone spielen kann leicht zu Reiseübelkeit führen.
Foto: iStock/FatCamera
Pathogenese unbekannt
Die Pathogenese der Reisekinetose ist nicht abschließend geklärt. An der Wahrnehmung von Bewegung und der Justierung des eigenen Körpers im Raum sind drei Systeme beteiligt: das Gleichgewichtsorgan im Innenohr, die Augen und das sogenannte propriozeptive System. Zu Letzterem gehören unter anderem Druckrezeptoren an der Fußsohle oder Sensoren in der Haut, die zum Beispiel den Luftzug einer Bewegung spüren. Liefern alle drei Systeme die gleichen Informationen an das Gehirn, ist alles in Ordnung. Erhält das Hirn aber widersprüchliche Signale, wird das als Gefahrensituation interpretiert. In der Folge wird unter anderem das Brechzentrum aktiviert.
Prinzipiell kann jeder Mensch reisekrank werden. Schätzungsweise sind 5 bis 10 Prozent der Menschen betroffen. Vor allem Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren kämpfen oft mit der Übelkeit, dagegen werden Babys und Menschen über 50 nur sehr selten reisekrank. Das liegt daran, dass bei Babys der Gleichgewichtssinn noch nicht vollständig ausgeprägt ist. Sinneskonflikte sind in diesem Stadium also alltäglich und werden vom Gehirn nicht als Irritation wahrgenommen. Bei Menschen über 50 liegt es am Alterungsprozess. Mit den Jahren bilden sich im Innenohr unter anderem die Otolithen zurück. Diese kleinen Kristalle ermöglichen es dem Gleichgewichtsorgan, Schwerkraft und Beschleunigung zu registrieren. Ist die Wahrnehmung nicht mehr so fein, sinkt das Risiko für die Reisekrankheit.
Frauen sind häufiger betroffen als Männer, insbesondere in der Schwangerschaft und während der Menstruation. Mediziner vermuten hormonelle Einflüsse. Menschen, die häufig unter Migräne leiden, scheinen ebenfalls ein erhöhtes Risiko für Kinetosen zu haben.
Tabletten, Suppositorien und Kaugummis
In der Selbstmedikation der Reiseübelkeit haben sich H1-Antihistaminika etabliert. Dimenhydrinat oder Diphenhydramin blockieren die Histamin-Rezeptoren in der Area postrema und unterdrücken dadurch den Brechreiz. Es stehen verschiedene Darreichungsformen vom Suppositorium bis zum Kaugummi zur Verfügung. Unterschiedliche Dosierungen der Wirkstoffe für Kinder und Erwachsene sollten bei der Empfehlung beachtet werden. Wichtig ist, dass Tabletten und Suppositorien mindestens eine halbe Stunde vor Reiseantritt angewendet werden. Kaugummis gegen Reiseübelkeit kann der Betroffene hingegen bei Bedarf kauen. Sie setzen den Wirkstoff im Mundraum frei und wirken deshalb schneller. Außerdem sind Kaugummis mit 20 mg niedriger dosiert als Tabletten (50 mg pro Tablette). Sie sind deshalb auch für Kinder ab sechs Jahren geeignet.
Wichtig ist, den Kunden auf die sedierende Nebenwirkung hinzuweisen, die eine aktive Teilnahme am Straßenverkehr einschränkt , wobei Reiseübelkeit ohnehin eher die Beifahrer trifft. Die Kombination mit Alkohol sollte tabu sein. Kinder entwickeln auf Antihistaminika gelegentlich paradoxe Reaktionen mit übermäßiger Unruhe, Erregung und Schlaflosigkeit. Des Weiteren gilt es, diverse Wechselwirkungen und Kontraindikationen zu beachten. So sind Dimenhydrinat oder Diphenhydramin unter anderem aufgrund ihrer anticholinergen Nebeneffekte nicht geeignet bei akuten Asthmabeschwerden, Engwinkelglaukom, Prostatahyperplasie, Epilepsie, Arrhythmien sowie bei schweren Leberfunktionsstörungen.
Ingwer als Alternative
Eine phytotherapeutische Alternative gegen Reiseübelkeit ist Ingwer (Zingiber officinale). Die Wirkung wird in erster Linie den enthaltenen Gingerolen und Shogaolen zugeschrieben, wobei der genaue Wirkmechanismus unbekannt ist. Ingwer steht in Kapselform zur Verfügung. Das Präparat sollte eine halbe Stunde vor Reisebeginn und dann bei Bedarf alle vier Stunden eingenommen werden. Vorteil des Ingwers: Die Reaktionsfähigkeit bleibt unbeeinträchtigt.
Zwar kein Bestandteil der Selbstmedikation, aber ebenfalls beratungsintensiv sind transdermale therapeutische Systeme mit Scopolamin, die bei starken Problemen verschrieben werden. Die Wirkung des Parasympatholytikums beruht vermutlich auf der Hemmung der Reizübertragung vom Gleichgewichtsorgan an das zentrale Nervensystem. Das Pflaster wird etwa fünf bis sechs Stunden vor Reiseantritt an eine unverletzte, unbehaarte Stelle hinter dem Ohr aufgeklebt und bietet dann einen Schutz über bis zu drei Tage. Bei Menschen mit Engwinkelglaukom ist Scopolamin kontraindiziert. Zudem können die anticholinergen Nebenwirkungen bei Patienten mit Polymedikation ein Problem sein.
Nicht zuletzt können Kinetose-Geplagten ein paar nützliche Verhaltenstipps gegen Reiseübelkeit helfen (siehe Kasten). Denn erfahrungsgemäß verhalten sich viele vor und auch während der Reise kontraproduktiv. /