Einwanderungsstopp für Lymphozyten |
25.06.2014 09:37 Uhr |
Von Annette Mende, Berlin / Vedolizumab (Entyvio®) heißt ein neuer Antikörper gegen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen, der ab Mitte Juli in Deutschland verfügbar sein wird. Er verhindert, dass Entzündungszellen in den Darm einwandern. Insbesondere für Patienten, denen momentan verfügbare Medikamente nicht helfen, stellt er eine Option dar.
Starke Bauchschmerzen, ständige Durchfälle und blutiger, schleimiger Stuhl kennzeichnen chronisch-entzündliche Darmerkrankungen (CED) und schränken die Lebensqualität betroffener Patienten häufig massiv ein. Doch nicht nur das. »Werden die Patienten nicht behandelt, steigt ihr Krebsrisiko signifikant an«, sagte Professor Dr. Daniel C. Baumgart von der Berliner Charité bei einer Pressekonferenz von Takeda in Berlin.
Zur Therapie von Patienten mit CED stehen derzeit vier Wirkstoffgruppen zur Verfügung: Aminosalicylate wie Mesalazin, Olsalazin oder Sulfasalazin, Corticosteroide, Immunsuppressiva wie Azathioprin oder Methotrexat sowie TNFα-Antagonisten wie Infliximab oder Adalimumab. Nicht bei allen Patienten lassen sich mit diesen Medikamenten zufriedenstellende Therapieergebnisse erreichen. »Unser Ziel ist heute nicht mehr nur die Symptomkontrolle. Wir wollen auch, dass die entzündete Schleimhaut abheilt«, sagte Baumgart. Denn ohne Mukosaheilung müssten häufig Teile des Darms operativ entfernt werden.
Neuer Angriffspunkt
Vedolizumab (Entyvio®) stellt insofern eine Erweiterung der therapeutischen Möglichkeiten dar, als es einen neuartigen Wirkmechanismus hat. Der Antikörper bindet selektiv an das zelluläre Adhäsionsmolekül α4β7-Integrin und blockiert es. Dadurch kann α4β7-Integrin nicht das mukosale Adressin-Zelladhäsionsmolekül-1 (MAdCAM-1) aktivieren. So wird die Einwanderung von Lymphozyten ins Darmgewebe unterbunden und die chronische Entzündung eingedämmt.
Einen ähnlichen, wenn auch unspezifischeren Wirkmechanismus hat das seit 2006 verfügbare Natalizumab (Tysabri®). Es ist ein Anti-α4-Integrin-Antikörper, blockiert also die α4-Kette des Integrins. Über die Blockade des α4β1-Integrins verhindert Natalizumab die Einwanderung aktivierter Immunzellen ins zentrale Nervensystem, weshalb es gegen Multiple Sklerose eingesetzt wird. Darüber hinaus wirkt Natalizumab aber auch – vermittelt durch die Blockade des α4β7-Integrins – gegen CED. In den USA ist Tysabri daher auch in dieser Indikation zugelassen, in Europa allerdings nicht.
»Mit Vedolizumab geht man spezifischer vor und verhindert gezielt die Bindung an MAdCAM-1, also an den Rezeptor des Darms«, erklärte Professor Dr. Britta Siegmund, ebenfalls von der Charité in Berlin. Immunzellen könnten so weiter ungehindert in andere Körpergewebe einwandern, insbesondere in das Gehirn. Eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML), eine gefürchtete und potenziell tödliche Komplikation der Natalizumab-Therapie, sei daher unter Vedolizumab nicht zu erwarten und im GEMINI-Studienprogramm mit knapp 2500 exponierten Patienten auch nicht aufgetreten.
Remission und Mukosaheilung
In dem drei klinische Phase-III-Studien umfassenden Programm konnte bei Patienten, die auf eine konventionelle Therapie oder auf einen TNFα-Antagonisten unzureichend angesprochen hatten, mit Vedolizumab häufiger eine klinische Remission, eine Mukosaheilung, ein andauerndes klinisches Ansprechen und eine cortisonfreie Remission erreicht werden als mit Placebo. Die Ergebnisse waren zwar nicht in allen Endpunkten und für alle Patientenkollektive statistisch signifikant. So sprachen Anti-TNFα-Therapieversager tendenziell schlechter an als Patienten, die zuvor konventionell therapiert worden waren, und Patienten mit Morbus Crohn später als diejenigen mit Colitis ulcerosa. Siegmund zufolge lässt sich das aber mit histologischen Unterschieden zwischen den beiden Erkrankungen erklären (siehe Kasten).
Häufigste Nebenwirkungen in den Zulassungsstudien waren Nasopharyngitis, Kopfschmerzen und Arthralgie. In der Langzeitbehandlung über 52 Wochen berichteten 19 Prozent der mit Vedolizumab behandelten Patienten von unerwünschten Ereignissen, in der Placebogruppe waren es 13 Prozent. Insgesamt stufte Siegmund das Sicherheitsprofil von Vedolizumab als sehr gut ein. /
Die beiden häufigsten chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen sind Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Sie unterscheiden sich unter anderem in der Lokalisation der Entzündungsherde: Während diese bei Colitis ulcerosa auf den Dickdarm oder Teile davon beschränkt sind, kann bei Morbus Crohn vom Mund bis zum Darmausgang jeder Teil des Verdauungstrakts betroffen sein. Auch histologisch ist der Befall beim Morbus Crohn ausgedehnter und erstreckt sich auf alle Schichten der Darmwand (transmural), bei der Colitis ulcerosa dagegen nur auf Mukosa und Submukosa. Darüber hinaus können insbesondere bei Morbus Crohn auch andere Organsysteme von der chronischen Entzündung betroffen sein.