Pharmazeutische Zeitung online Avoxa
whatsApp instagram facebook bluesky linkedin xign
Interview

Schnittstelle von Pharmazie und ­Mathematik

Datum 21.06.2010  13:48 Uhr

Von Sven Siebenand, Berlin / Die Pharmakometrie, die sich mit der Modellierung von Arzneimittelwirkungen und Krankheitsverläufen beschäftigt, gewinnt immer mehr an Bedeutung. In Deutschland beschäftigen sich bisher nur wenige Forscher damit. Ein Grund mehr für die PZ, sich bei Experten aus der Arbeitsgruppe von Professor Dr. Charlotte Kloft von der Uni Halle-Wittenberg über diesen Wissenschaftszweig zu informieren.

PZ: Was genau ist Pharmakometrie?

 

Nock: Pharmakometrische Methoden haben das Ziel, die Wechselwirkungen zwischen Patient und Arzneimittel mithilfe von mathematischen Modellen zu beschreiben und vorherzusagen. Dazu betrachten wir den zeitlichen Verlauf von Arzneistoffkonzentrationen (Pharmakokinetik), von erwünschten und unerwünschten Effekte der Arzneistoffe (Pharmakodynamik) sowie die zugrunde liegenden Arzneistoff- und Patienteneigenschaften und den Krankheitsverlauf. Wir untersuchen den Einfluss von zum Beispiel Patienteneigenschaften, Krankheitsstatus und Arzneimittelcharakteristika auf die pharmakokinetischen und -dynamischen Effekte. Ziel ist es, die Zusammenhänge zwischen Patient, Arzneimittelgabe und Therapieergebnis besser zu verstehen und somit rationale und individuelle Dosierungsempfehlungen zu entwickeln.

Drescher: Ganz charakteristisch für die Pharmakometrie ist, dass es sich um einen interdisziplinär aufgestellten Forschungsbereich handelt. Die pharmazeutische Exper­tise liegt dabei ganz klar auf der Anwendung von neuen Methoden und Verfahren zur Datenauswertung, die zum Beispiel Hand in Hand mit Mathematikern entwickelt wer­den. Daher ist neben fundierten Kenntnissen in Anatomie, Physiologie, Pharmakologie und Pharmakotherapie ein ge­wisses Interesse und Verständnis für Mathematik wichtig.

 

PZ: Wo liegt der Unterschied zu einer rein pharmako­kinetischen Betrachtungsweise?

 

Drescher: Zum einen ist die Pharmakokinetik nur ein Teil der ganzen Wechselwirkungen und eben »nur« ein Binde­glied zwischen applizierter Dosis und Wirkung. Zum ande­ren lässt sich die Auswertung von Daten aus dem klini­schen Alltag oder in den späten Phasen der klinischen Entwicklung mit den traditionellen pharmakokine­tischen Betrachtungen, wie sie die meisten noch aus dem Studi­um kennen dürften, kaum realisieren.

 

Der sogenannte Populationsansatz der Pharmakometrie ermöglicht auch bei geringer Anzahl an Daten pro Studien­teilnehmer, die Pharmakokinetik und Wirkungen zu bestimmen und die interindividuelle Variabilität besser abzuschätzen, also wie stark sich Patienten zum Beispiel in ihrem Ansprechen unterscheiden. Darüber hi-naus können durch diesen Ansatz vor allem die Ursachen im Patienten für die unterschiedlichen Therapieergebnisse aufgespürt werden.

 

In Fach- und Gebrauchsinformationen finden sich bislang hierzu nur wenige Angaben. Abgesehen von Nieren- oder Leberinsuffizienten werden häufig alle Patienten gleich behandelt. Und das obwohl bekannt ist, dass viele Faktoren, etwa Körpergewicht, Alter, Geschlecht und genetische Ausstattung sowie das Rauchen die Wirkung eines Arzneimittels beeinflussen können.

 

PZ: Was sind die Ziele der Populationsanalyse?

Nock: Ziel der mathematischen Datenanalyse ist es, den zeitlichen Verlauf von (un-)erwünschten Therapieereignis­sen einzelner Patienten und Patientengruppen zu unter­suchen. Wir suchen nach Antworten auf Fragen wie: »Wie ist der typische Verlauf innerhalb einer Population?«, »Wie stark unterscheiden sich die einzelnen Patienten voneinander?« und »Gibt es besondere Charakteristika, die dafür verantwortlich sein könnten, etwa Körpergewicht, Lebensgewohnheiten (Rauchen), Enzymausstattung?«

 

PZ: Gibt es Beispiele, die den Nutzen solcher Methoden belegen?

 

Drescher: Ja. Das sogenannte Model-based Drug Deve­lopment, die modellbasierte Wirkstoffentwicklung, hat schon in einigen Fällen wichtige und wertvolle Hinweise liefern können. Diese können sich auf Wirksamkeit der Therapie, aber auch auf deren Sicherheit beziehen. Bei der Entwicklung und dem Labeling von Gabapentin/Pre­gabalin (Dosierung) und Mycophenolatmofetil (Nieren­funktionseinschränkung) konnte dieser Ansatz realisiert werden.

 

PZ: Wie bekannt ist dieses Forschungsgebiet in der pharmazeutischen Industrie?

 

Nock: Alle großen Pharmaunternehmen sind auf diesem Sektor aktiv. Die Vorteile der Modell-basierten Wirkstoffentwicklung liegen klar auf der Hand. Idealerweise begleitet die Modellierung alle Stadien der Entwicklung eines Arzneistoffes und integriert Daten aus den verschiedensten Abteilungen, sodass auch bei Entscheidungsfindungen und auch in der Planung der klinischen Studien unterstützt werden kann. Nichts wäre schlimmer für die Hersteller, als dass ein Arzneistoff in der späten Phase der klinischen Entwicklung scheitert. Ein prädiktives pharmakometrisches Modell kann dieses Risiko deutlich reduzieren.

 

Drescher: Mittlerweile fordern auch die Zulassungsbehörden Modellierungsarbeiten. Für die meisten neu zugelassenen Arzneistoff werden solche durchgeführt. Die europäische und die amerikanische Arzneimittelagentur, EMA und FDA, fordern für die Zulassung mindestens zwei große Studien, in denen Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nachgewiesen sind. Kommen pharmakometrische Methoden zum Einsatz, ist unter Umständen eine Studie davon sogar verzichtbar. Da können die Unternehmen viel Zeit und Geld sparen.

 

PZ: Wie gehen Sie vor, nachdem Sie festgelegt haben, welchen Aspekt Sie mit einem Modell untersuchen wollen?

 

Nock: Die Daten stammen aus klinischen Studien oder In-vitro-Versuchen, die von uns teilweise selbst durchgeführt werden. Im ersten Schritt gilt es, ein geeignetes Struktur-Modell zur Beschreibung des typischen zeitlichen Verlaufs sowohl von Arzneistoffkonzentrationen als auch des Effekts in der Studienpopulation zu finden. Danach wird das Modell erweitert, um die Variabilität zwischen den Individuen zu quantifizieren. Abschließend prüfen wir, ob sich die beobachtete Variabilität anhand der Einflussgrößen erklären lässt.

 

Drescher: Wichtig ist natürlich auch, das Modell zu evaluieren, denn während der Modell-Entwicklung werden verschiedene Annahmen gemacht, die stets kritisch hinterfragt werden müssen. Ein Modell ist nie statisch und bleibt immer ein Modell, das bisherige Beobachtungen beschreibt und neue Hypothesen generiert. Durch eben eine ausführliche Evaluation und weitere Daten lässt sich die Aussagekraft verbessern. Irgendwann könnte man dahin kommen, durch prädiktive Modelle nur noch wenige Studien für neue Arzneimittel durchführen zu müssen und Arzneistoffe für bestimmte Personengruppen zielgerichtet zuzulassen beziehungsweise die bestmögliche Dosierung für jeden Einzelnen zu finden. / 

Hintergrund

Die Martin-Luther-Universität (MLU) Halle-Wittenberg und die Freie Universität Berlin bieten seit 2008 ein strukturiertes Forschungsausbildung-Programm für Doktoranden auf dem Gebiet der Pharmakometrie an. Das Projekt mit dem Namen »Pharmacometrics & Computational Disease Modelling« läuft in Kooperation mit sechs großen Pharmaunternehmen.

 

Apothekerin und Diplom-Pharmazeutin Anne Drescher arbeitet als PostDoc im Arbeitskreis Klinische Pharmazie von Professor Dr. Charlotte Kloft an der MLU Halle-Wittenberg. Apothekerin Valerie Nock ist dort als Doktorandin im Rahmen des obengenannten Graduiertenprogramms beschäftigt.

Frag die KI
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
Die experimentelle KI
von PZ und PTA-Forum
 
FAQ
BETA
Menü
Zeit
SENDEN
Wie kann man die CAR-T-Zelltherapie einfach erklären?
Warum gibt es keinen Impfstoff gegen HIV?
Was hat der BGH im Fall von AvP entschieden?
Zeit
GESAMTER ZEITRAUM
3 JAHRE
1 JAHR
Senden
SENDEN
KI
IHRE FRAGE WIRD BEARBEITET ...
KI
KI
UNSERE ANTWORT
QUELLEN
22.01.2023 – Fehlende Evidenz?
LAV Niedersachsen sieht Verbesserungsbedarf
» ... Frag die KI ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln. ... «
Ihr Feedback
War diese Antwort für Sie hilfreich?
 
 
FEEDBACK SENDEN
FAQ
Was ist »Frag die KI«?
»Frag die KI« ist ein experimentelles Angebot der Pharmazeutischen Zeitung. Es nutzt Künstliche Intelligenz, um Fragen zu Themen der Branche zu beantworten. Die Antworten basieren auf dem Artikelarchiv der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums. Die durch die KI generierten Antworten sind mit Links zu den Originalartikeln der Pharmazeutischen Zeitung und des PTA-Forums versehen, in denen mehr Informationen zu finden sind. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung verfolgt in ihren Artikeln das Ziel, kompetent, seriös, umfassend und zeitnah über berufspolitische und gesundheitspolitische Entwicklungen, relevante Entwicklungen in der pharmazeutischen Forschung sowie den aktuellen Stand der pharmazeutischen Praxis zu informieren.
Was sollte ich bei den Fragen beachten?
Damit die KI die besten und hilfreichsten Antworten geben kann, sollten verschiedene Tipps beachtet werden. Die Frage sollte möglichst präzise gestellt werden. Denn je genauer die Frage formuliert ist, desto zielgerichteter kann die KI antworten. Vollständige Sätze erhöhen die Wahrscheinlichkeit einer guten Antwort.
Wie nutze ich den Zeitfilter?
Damit die KI sich bei ihrer Antwort auf aktuelle Beiträge beschränkt, kann die Suche zeitlich eingegrenzt werden. Artikel, die älter als sieben Jahre sind, werden derzeit nicht berücksichtigt.
Sind die Ergebnisse der KI-Fragen durchweg korrekt?
Die KI kann nicht auf jede Frage eine Antwort liefern. Wenn die Frage ein Thema betrifft, zu dem wir keine Artikel veröffentlicht haben, wird die KI dies in ihrer Antwort entsprechend mitteilen. Es besteht zudem eine Wahrscheinlichkeit, dass die Antwort unvollständig, veraltet oder falsch sein kann. Die Redaktion der Pharmazeutischen Zeitung übernimmt keine Verantwortung für die Richtigkeit der KI-Antworten.
Werden meine Daten gespeichert oder verarbeitet?
Wir nutzen gestellte Fragen und Feedback ausschließlich zur Generierung einer Antwort innerhalb unserer Anwendung und zur Verbesserung der Qualität zukünftiger Ergebnisse. Dabei werden keine zusätzlichen personenbezogenen Daten erfasst oder gespeichert.

Mehr von Avoxa