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Antidiabetika

Prototyp aus dem Apfelbaum

31.05.2010  15:00 Uhr

Von Sven Siebenand, Stuttgart / Die oralen Antidiabetika könnten demnächst um eine Klasse größer sein. Sogenannte SGLT-2-Inhibitoren ahmen eine seltene genetische Störung nach und sorgen dafür, dass Zucker über die Nieren ausgeschieden wird. Welcher Wirkmechanismus steckt dahinter und was hat das Ganze mit Obstbäumen zu tun?

Antworten auf diese Fragen gab es auf der Jahrestagung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft. »Stehen wir vor einem Paradigmenwechsel?«, fragte Professor Dr. Stephan Martin vom Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrum der Sana Kliniken in Düsseldorf zu Beginn seines Vortrages. Bisher habe man geglaubt, dass Glucose im Urin schlecht ist. »Wenn das Prinzip der neuen Wirkstoffklasse funktioniert, ist Glucose im Urin aber gut«, so der Mediziner.

Normalerweise wird die Plasma­glucose in den Nieren glomerulär filtriert und im proximalen Tubulus aktiv resorbiert. Als Haupttranspor­ter, der für die Wiederaufnahme von Glucose an dieser Stelle verant­wortlich ist, haben Wissen­schaftler SGLT 2 ausgemacht, einen Natri­um-abhängigen Glucose-Co-Trans­porter (sodium dependent glucose transporter, SGLT). SGLT 1 ist ein anderes Isoenzym dieser Carrier­proteine. Es wird vor allem in Dünn­darm, Kolon und in der Niere expri­miert, so Martin. Wird dieses Enzym gehemmt, so resultieren daraus Glucose- und Galaktose­malabsorptionsstörungen, die zu Durchfall führen. Das Isoenzym SGLT 2 wird dagegen fast ausschließlich in den Nieren, genauer gesagt im frühen proximalen Tubulus, exprimiert.

 

Denkbare Anwendungsgebiete

 

»Vorbild der SGLT-2-Hemmer ist eine Abweichung von der physiologischen Norm«, erläuterte Martin: Beim sogenannten Nierendiabetes komme es infolge eines Defekts im SGLT-2-Gen ebenfalls zu einem Verlust von Zucker über den Urin, ohne dass die Patienten erkranken. Der Transporter SGLT 1 sorge dafür, dass genügend Zucker ins Blut transportiert wird. Bei Diabetikern ist Glucose bekanntlich im Überfluss im Blut vorhanden. Wird bei ihnen der SGLT-2-Transporter blockiert, so hat das Folgen. Die zu geringe Kapazität von SGLT 1 führt dazu, dass nicht die gesamte Glucose rückresorbiert werden kann und dann verstärkt in den Endharn gelangt.

 

Chemisch betrachtet stammen die in der Entwicklung befindlichen SGLT-2-Hemmer wie Dapagliflozin, Sergliflozin, Remogliflozin und Canegliflozin von der Substanz Phlorizin ab. »Dieses kommt in der Rinde von Birn-, Apfel- und Kirschbäumen vor«, informierte Martin. Allerdings ist die Substanz nicht ausreichend SGLT2-spezifisch und besitzt zudem eine geringe orale Bioverfügbarkeit. Das ist bei den neuen Wirkstoffkandidaten nicht der Fall. Dapagliflozin hat zum Beispiel eine 3000-fach höhere Affinität zu SGLT 2 als zu SGLT 1.

 

Dieser Wirkstoff ist die in der Entwicklung am weitesten vorangeschrittene Substanz der neuen Medikamentenklasse. Ende vergangenen Jahres wurden erste Ergebnisse einer 24-Wochen-Studie der Phase III mit Dapagliflozin vorgestellt. In dieser randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie erhielten mehr als 500 Typ-2-Diabetiker zusätzlich zu Metformin entweder 2,5; 5 oder 10 mg Dapagliflozin beziehungsweise Placebo als Add-on. Primärer Endpunkt war die Senkung des HbA1c-Wertes. Diese war in allen Dapagliflozin-Armen signifikant größer als in der ausschließlich mit Metformin behandelten Gruppe.

 

Die neuen Medikamente könnten Typ-2-Diabetikern helfen, Insulin einzusparen. »Bei Studienteilnehmern konnte die Dosis halbiert werden«, berichtete Martin. Die Kombination mit Insulin, aber auch anderen oralen Antidiabetika bezeichnet er als »sehr interessant«. Ein weiterer Vorteil der SGLT-2-Hemmer könnte darin bestehen, dass mit dem Zucker auch Kalorien über die Niere ausgeschieden werden. Da viele Typ-2-Diabetiker übergewichtig sind und die Diabetesbehandlung das Gewicht der Patienten unter Umständen sogar steigert, wäre das erstrebenswert. »Unter der Behandlung mit den SGLT-2-Hemmern nahmen die Patienten zum Beispiel im Vergleich zu Metformin drei bis vier Kilo ab«, so Martin. Auch günstige Auswirkungen auf den Blutdruck hätten sich gezeigt. Der Mediziner hält es ferner auch nicht für ausgeschlossen, dass die Wirkstoffe dieser neuen Substanzklasse sogar bei Typ-1-Diabetes einen Nutzen haben könnten, zum Beispiel um postprandiale Blutzuckerspitzen abzufangen. Das müsse aber noch in Studien bestätigt werden.

 

Mögliche Nebenwirkungen

 

Welche Komplikationen könnten die Substanzen der neuen Wirkstoffklasse verursachen? Wenn vermehrt Zucker in den Urin gelangt, wird man zunächst an das Risiko für Harnwegsinfektionen denken. Diese traten laut Martin aber in den bisherigen Studien nicht signifikant häufiger auf. Allerdings kam es vermehrt zu Genitalinfektionen, zum Beispiel vaginalen und vulvovaginalen Mykosen. Martin sprach zudem die Gefahr einer Dehydratation an. Zudem werde SGLT 2 auch in der Placenta exprimiert. Das könne zu Problemen bei der Gabe von SGLT-2-Inhibitoren in der Schwangerschaft führen.

 

»Ich denke, wir sollten diesen Substanzen eine Chance geben«, fasste Martin zusammen. Die Frage, ob SGLT-2-Hemmer einen Paradigmenwechsel in der Diabetestherapie einleiten, könne man heute noch nicht beantworten. In diesem Jahr seien noch einige neue Studienergebnisse zu erwarten, die das Verhältnis von Nutzen und Risiko besser abschätzen lassen werden. Daher sei es für eine abschließende Bewertung noch zu früh. /

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