Die Welt braucht neue Arzneimittel |
07.05.2007 13:52 Uhr |
Die Welt braucht neue Arzneimittel
Von Axel Helmstädter, Amsterdam
Noch immer gibt es Erkrankungen, für die keine Therapien verfügbar sind. Zudem reagiert jeder Mensch aufgrund seiner genetischen Ausstattung anders auf einen Wirkstoff. Den pharmakotherapeutischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts stellten sich Spitzenforscher aus aller Welt auf einem Kongress des pharmazeutischen Weltverbands Fédération Internationale de Pharmacie (FIP).
»Zielgerichtete Pharmaforschung sollte sich an den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschheit orientieren«, forderte Dr. Richard Laing von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf dem 3. Pharmaceutical Sciences World Congress. Daher hat die WHO eine Prioritätenliste für die Entwicklung neuer Arzneimittel angefertigt, in der sie den medizinischen Herausforderungen die heute verfügbaren, evidenzbasierten Therapiemöglichkeiten systematisch gegenübergestellt. Die Liste berücksichtigt auch Trends und Überlegungen zur gesellschaftlichen Verantwortung für die Gesundheitsvorsorge in Entwicklungsländern.
An erster Stelle der im Internet einsehbaren Liste (http://mednet3.who.int/prioritymeds/report/index.htm) steht die Entwicklung neuer Antibiotika. Hintergrund ist die dramatische Zunahme von Resistenzen. »Derzeit befindet sich kein einziges Mittel gegen gramnegative Infektionserreger in der industriellen Entwicklung«, konstatierte Dr. Thomas Lönngren, Direktor der europäischen Zulassungsbehörde EMEA. Eine weitgehende Wirkungslosigkeit der heute verfügbaren Antibiotika habe nicht nur Auswirkungen auf Infektionskrankheiten. Auch Operationen, die routinemäßig eine antimikrobielle Prophylaxe erfordern, seien kaum noch durchzuführen.
Platz zwei nehmen Maßnahmen gegen eine weltweite Grippe-Epidemie ein. Eine weltweite Influenza-Epidemie ist auch ohne ein Übergreifen des Vogelgrippevirus auf den Menschen jederzeit möglich. Für die Verhinderung der Virusausbreitung reichen allerdings die weltweit verfügbaren Kapazitäten zur Impfstoffherstellung im Moment nicht aus.
Es folgen die Sekundärprävention kardiovaskulärer Ereignisse sowie die sogenannten vernachlässigten Krankheiten, wozu vor allem Infektionskrankheiten in Entwicklungsländern zählen. Erst danach werden chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus, Krebs oder Alzheimer genannt.
Zudem müssen auch prinzipiell verfügbare Arzneistoffe besser nutzbar gemacht werden. So fehlen kindgerechte HIV-Medikamente ebenso wie hitzebeständige Proteinarzneistoffe. Hunderttausende von Frauen, die in heißen Ländern an postpartalen Blutungen sterben, könnten mit hitzebeständigem Oxytocin gerettet werden.
Individuell therapieren
In klinischen Studien erhobene Statistiken haben im Einzelfall nur geringe Aussagekraft, da sowohl das Ansprechen auf eine Therapie als auch das Ausmaß der Arzneistoffmetabolisierung genetisch determiniert sind und daher von Patient zu Patient stark variieren können. Von Nutzen wäre hier ein Parameter, anhand dessen es sich im Einzelfall vorhersagen lässt, ob eine Therapie erforderlich ist oder nicht. Zu solchen, auch als Biomarker bezeichneten Parametern, liegt bereits eine Fülle Einzeldaten vor. Viele beziehen sich auf die genetische Variabilität, den Polymorphismus arzneistoffmetabolisierender Enzyme wie der Cytochrom-P450-Familie sowie auf Transportproteine, die Arzneistoffe durch Zellmembranen hindurch ein- oder ausschleusen. Jedoch scheinen nicht alle Einzelergebnisse in der therapeutischen Praxis tatsächlich relevant zu sein und für wenige Therapieoptionen wird heute bereits eine Genotypisierung vorgenommen, um die Behandlung zu individualisieren.
Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA verlangt derzeit eine Typisierung für den Antikörper Trastuzumab (Herceptin®). Für drei weitere ist ein A-priori-Test bereits empfohlen. Trastuzumab wirkt nur bei Tumoren der Brust, die den epidermalen Wachstumsfaktor HER2 überexprimieren, was bei 15 bis 20 Prozent aller Mammakarzinome der Fall ist.
Ein weiteres Beispiel ist 6-Mercaptopurin, das unter anderem bei Leukämie und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen eingesetzt wird. Da etwa einem von 200 Patienten in Deutschland das metabolisierende Enzym Thiopurin-S-Methyl-Transferase (TPMP) fehlt, kann es zur Kumulation des Arzneistoffs führen und zu schweren Nebenwirkungen kommen. »Patienten mit TPMP-Mangel benötigen nur ein Zehntel der üblichen Dosis«, informierte Professor Dr. Matthias Schwab, Stuttgart. Genetische Tests empfiehlt die FDA auch für das Zytostatikum Irinotecan und den Blutgerinnungshemmer Warfarin.
Große interindividuelle Unterschiede gibt es in der Verstoffwechslung von Protonenpumpenhemmern und trizyklischen Antidepressiva. Für Letztere wurden bereits am Genotyp orientierte Dosisanpassungen vorgeschlagen, die von 50 bis 120 Prozent der üblichen Dosis reichen. Zur Bestimmung der Ausstattung mit bestimmten Cytochrom-Enzymem ist bereits ein Testsystem kommerziell erhältlich. »Grund für allzu große Euphorie gibt es jedoch nicht«, warnte Professor Geoffrey Tucker, Sheffield. Die genetische Variabilität sei nur ein Faktor unter vielen, die letztendlich die Arzneimittelwirkungen im Einzelfall bestimmen. Häufig spielten die Compliance des Patienten, die schwankende Bioverfügbarkeit des Arzneistoffs und Interaktionen mit anderen Arzneistoffen oder Nahrungsmitteln eine größere Rolle.
Obwohl die Genotypisierung in der klinischen Routine noch selten verwendet wird, erfasst in den Niederlanden eine Arbeitsgruppe der pharmazeutischen Berufsorganisation wissenschaftliche Informationen über genetische Variabilitäten arzneimittelbezogen in einer Datenbank. Bisher entwickelten sie Datensätze für 26 Arzneistoffe, welche die wissenschaftliche Literatur zusammenfassen und Dosisanpassungen vorschlagen, sofern eine Genotypisierung des Patienten vorliegt. Diese Informationen sind Bestandteil der Datenbank niederländischer Apotheken (G-Standaard). Liegt eine Genotypisierung vor und ist ein relevantes Arzneimittel verordnet, gibt die Datenbank in der Apotheke automatisch Hinweise zur Dosisanpassung.
Ein weiterer Grund für unerwartete Reaktionen von Patienten auf eine Arzneimittelgabe sind Interaktionen mit anderen Arzneistoffen oder Nahrungsmitteln. Das gilt auch für Phytopharmaka, deren Einnahme im Rahmen der Selbstmedikation und damit meist ohne Wissen des Arztes erfolgt. Eine australische Studie zeigte, dass die Hälfte der Patienten, die Phytopharmaka einnehmen, am selben Tag ein synthetisches Medikament bekommen.
Problematisch ist, dass Phytopharmaka derselben Pflanze durch verschiedene Extraktionsmethoden völlig unterschiedlich zusammengesetzt sein können. Entsprechend schwierig sind Interaktionen vorherzusagen sowie Literaturangaben zu vergleichen und zu verallgemeinern. Bekanntestes Beispiel ist Johanniskraut, dessen Inhaltsstoff Hyperforin, neben vielen anderen Interaktionen, die Wirksamkeit oraler Antikoagulantien reduziert. Untersuchungen zeigen, dass der Hyperforin-Gehalt der Handelspräparate stark schwankt, teilweise sogar von Charge zu Charge.
Einheitlicher zusammengesetzt sind Ginkgo-biloba-Präparate, sofern sie den Spezialextrakt Egb 761 enthalten. Dennoch ist es bislang nicht gelungen, eine Interaktion mit Cumarinen in systematischen Studien nachzuweisen, obwohl in Fallberichten mehrfach auf schwerwiegende Blutungskomplikationen unter der Zweifachtherapie hingewiesen wurde.
Relativ neu sind Erkenntnisse, wonach Preiselbeersaft zu einer signifikanten Erhöhung der Wirkungsverstärkung der Gerinnungshemmer führt. Tödliche Blutungskomplikationen wurden bereits beschrieben.