Der Pflichtteil des einen Recht, des anderen Last |
28.04.2006 13:05 Uhr |
Der Pflichtteil des einen Recht, des anderen Last
von Rembert Müller, Hamburg
Blut ist dicker als Wasser. Eine Erkenntnis, die unser Erbrecht prägt: Gesetzliche Erben sind die Verwandten, sofern sie innerlich oder äußerlich dem Verstorbenen auch nahe standen. Wer das nicht will, muss ein Testament machen und darin Erben nach seinem Willen einsetzen.
Dieses Recht nennen die Juristen Testierfreiheit. Es ist durch unser Grundgesetz garantiert. Aber: Blut ist auch hier dicker als Wasser. Der Testierfreiheit ist eine Grenze gesetzt und diese Grenze heißt Pflichtteil.
Unser Erbrecht hat seine Wurzeln im römischen Recht. Das germanische Recht kannte die Testierfreiheit nicht; dort war es selbstverständlich, dass das Vermögen des Verstorbenen in der Familie blieb. Die alten Römer erlaubten dagegen andere Erbregelungen durch Testament, schützten aber auch die Kinder, denen immer ein Anteil am Erbe zustand - auch wenn der Verstorbene etwas anderes in sein Testament geschrieben hatte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Unser Pflichtteilsrecht geht sogar noch weiter.
Einen Anspruch auf den Pflichtteil haben die Abkömmlinge (alternativ in dieser Reihenfolge: Kinder, Enkel, Urenkel), der Ehepartner und, wenn es keine Abkömmlinge gibt, die Eltern des Verstorbenen. Dieser Anspruch muss innerhalb von drei Jahren nach dem Tode gegenüber dem Erben geltend gemacht werden, danach ist er verjährt.
Der Pflichtteil ist ein Geldanspruch. Der Pflichtteilsberechtigte wird also nicht (Mit-)Erbe mit gesetzlich garantiertem Anteil. Er hat eine besondere Stellung außerhalb der Erbengemeinschaft, ohne Mitbestimmungsrechte, ohne Erbenpflichten. Er kann nur verlangen, dass die Erben ihm genaue Auskunft erteilen, woraus das Erbe besteht und wie viel es wert ist. Von diesem Wert bekommt er dann die Hälfte dessen, was ihm als gesetzlicher Erbe zustehen würde.
Ein Beispiel: Ist eines von drei Kindern durch Testament enterbt, bekommen nach dem Tode des Vaters dessen Ehefrau ½ und jedes der nicht enterbten Kinder ¼ einen Teil des Erbes. Das enterbte Kind hätte eigentlich (nach dem Gesetz) ebenso wie seine Geschwister ein Sechstel des Erbes bekommen müssen; sein Pflichtteil ist davon die Hälfte, also ein Zwölftel. Es kann von der Erbengemeinschaft (Mutter und zwei Geschwister) verlangen, dass ihm der Wert dieses Anteils ausgezahlt wird.
Wie von jeder Regel gibt es auch von dieser Ausnahmen: Wenn ein Abkömmling den (Groß-, Urgroß-)Eltern nach dem Leben trachtet oder sie misshandelt, kann ihm durch Testament oder auch durch Anfechtungserklärung der Erben der Pflichtteil entzogen werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich in einer recht aktuellen Entscheidung mit diesem Thema beschäftigen müssen. In einem Fall war die Mutter von ihrem Sohn getötet und vorher immer wieder körperlich misshandelt worden. Wegen dieser Misshandlungen hatte sie dem Sohn durch Testament den Pflichtteil entzogen. Im Strafverfahren wurde festgestellt, dass der psychisch kranke Sohn nicht schuldfähig war. In dem anderen Fall hatte der Vater seinem Sohn den Pflichtteil entzogen, weil dieser Sohn ihm jeden Kontakt mit seinem Enkelkind untersagte und unmöglich machte.
Das Bundesverfassungsgericht stellt in seiner Entscheidung zunächst einmal klar, dass unser Pflichtteilsrecht nicht gegen das Grundgesetz (GG) verstößt, sondern im Gegenteil Folge der Erbrechtsgarantie aus Artikel 14 GG und damit als Mindestbeteiligung der Kinder am Erbe geschützt ist. Dieses Pflichtteilsrecht soll der Festigung innerfamiliärer Beziehungen dienen und damit letztlich der Familie, die unter dem Schutz des Grundgesetzes steht.
Auch die zerrüttete Familienbeziehung wird geschützt. Es ist also nicht möglich, den Pflichtteil mit der Begründung zu entziehen, die Beziehung zu diesem Kind sei zerrüttet. Dabei beanstandet das Bundesverfassungsgericht die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, den Pflichtteil zu entziehen, grundsätzlich nicht. Bei schwerwiegendem Fehlverhalten des Kindes muss dies möglich sein. Man kann schon ahnen, wie es dem Sohn erging, der dem Vater den Kontakt mit seinem Enkel verwehrte: Er bekommt seinen Pflichtteil.
Schwieriger wird es bei dem »Muttermörder«. Er war ja nicht schuldfähig, wie die Strafrichter festgestellt hatten. Das aber reicht dem Verfassungsgericht nicht: Es fragt danach, ob der psychisch Kranke mit einem »natürlichen« Vorsatz gehandelt hat, nicht, ob er schuldunfähig im strafrechtlichen Sinne war. Auch der psychisch Kranke kann zielgerichtet handeln, also mit »natürlichem« Vorsatz. Ihm kann dann auch der Pflichtteil entzogen werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat wieder einmal Signale gesetzt: Der Pflichtteil ist durch unser Grundgesetz geschützt und kann nicht durch ein neues Erbrecht abgeschafft werden, auch wenn seine Kritiker das wollten. Die Entziehung des Pflichtteils ist ebenso grundgesetzlich geschützt, muss aber im Interesse der Familiengemeinschaft auf schwerwiegendes Fehlverhalten beschränkt bleiben. Es bleibt also dabei: Blut ist dicker als Wasser.