Stumme Hilferufe der Seele |
15.02.2011 14:34 Uhr |
Von Nicole Schuster / Wenn es schmerzt, verspüren sie Erleichterung: Viele Jugendliche verletzen sich selbst, sie ritzen, verbrennen oder schneiden sich, um Druck abzubauen. Selbstverletzendes Verhalten kann suchtartige Ausmaße annehmen und ist schwierig zu behandeln. Im Vordergrund der Therapie steht, die seelischen Wunden zu heilen.
»Selbstverletzendes Verhalten wird definiert als repetitive, direkte Beschädigung von Körpergewebe ohne suizidale Absicht, die sozial nicht akzeptiert ist«, erklärt der Arzt Dr. Paul Plener von der Ulmer Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Gespräch mit der Pharmazeutischen Zeitung. Dieser Definition nach fallen den Körper verletzende, nicht-medizinisch indizierte Behandlungen wie Schönheitsoperationen, Tätowierungen oder Piercings nicht unter den Begriff »selbstverletzendes Verhalten«. Das Gleiche gilt für Selbstverletzungen aus religiösen oder rituellen Gründen. In diesen Fällen handelt es sich um von der jeweiligen Gesellschaft akzeptierte und sogar motivierte Handlungen.
Soziale Isolierung und ein geringes Selbstwertgefühl sind Hauptrisikofaktoren für selbstverletzendes Verhalten. Die Betroffenen haben keine geeigneten Strategien gelernt, innere Anspannung abzubauen.
Foto: DAK
Nicht gesellschaftlich akzeptiert ist es jedoch, wenn sich junge Menschen mit Messern, Scheren oder Rasierklingen die Haut aufritzen, sich mit heißem Wasser verbrühen oder Zigaretten auf der eigenen Haut ausdrücken. An dieser umgangssprachlich auch »Ritzen« genannten Störung leiden Schätzungen zufolge 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung, wobei von einer hohen Dunkelziffer auszugehen ist. Meistens tritt die Störung in der Pubertät auf. Junge Mädchen und Frauen sind häufiger betroffen als Jungen und Männer, was unter anderem die CASE-Studie aus dem Jahre 2008 belegt.
Diese Untersuchung ergab, dass sich zum Zeitpunkt der Befragung von 30 000 jungen Menschen zwischen 15 und 16 Jahren aus verschiedenen Ländern mindestens jedes zweite Mädchen im zurückliegenden Jahr selbst verletzt hat. Allerdings haben die Forscher hier alle Fälle von selbstverletzendem Verhalten einbezogen, auch jene, die nicht der eigentlichen Definition entsprechen wie das Schlucken nicht verordneter Medikamente (1). Auf entsprechend niedrigere Zahlen kommt daher eine Studie aus dem Jahre 2009 von dem Ulmer Wissenschaftler Plener, die ausschließlich selbstverletzendes Verhalten im beschriebenen Sinne berücksichtigt hat. Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass von den befragten Schülern im Alter von 14 bis 17 Jahren jeder vierte bereits selbstverletzendes Verhalten durchgeführt hat (2).
Schmerzen als Ventil
Häufig tritt selbstverletzendes Verhalten im Zusammenhang mit anderen psychischen Störungen wie Depressionen, Essstörungen, Traumata oder Süchten auf. Die Patienten weisen ein geringes Selbstwertgefühl auf, sind von Selbstzweifeln geplagt und haben Beziehungen zu anderen Menschen als instabil und wenig verlässlich erlebt. Kennzeichnend ist, dass sie über keine ausreichenden Strategien verfügen, um mit inneren Anspannungen umzugehen. Bei belastenden Lebensereignissen, ungelösten Konflikten oder auch motiviert durch Selbsthass fügen sie sich selbst Verletzungen zu. Für die Betroffenen sind die Schmerzen ein Ventil, um Druck abzulassen. Oft gilt: Hauptsache, es tut weh, Hauptsache es fließt Blut. Bei den Betroffenen besteht eine große Rückfallgefahr und in vielerlei Beziehungen ähnelt das Verhalten damit Suchterkrankungen. Es verschafft den Betroffenen eine gewisse Befriedigung, sich selbst weh zu tun, und ihr Körper schüttet dabei anscheinend sogar »Glückshormone«, die Endorphine, aus. Diese unterdrücken zunächst die Schmerzempfindung und versetzen die Betroffenen in einen gelösten Zustand. Der Wunsch, diese Entspannung wieder zu erleben, kann dazu führen, sich bei neuen Krisen erneut zu verletzen.
Sich selbst Schmerzen zufügen, um Erleichterung zu spüren: Zum sogenannten Ritzen neigen vor allem junge Mädchen.
Foto: Fotolia/Hunta
Typischerweise finden sich die zugefügten Wunden an den Extremitäten und an anderen Stellen, die gut zu erreichen und zu verstecken sind. Typische Verletzungsmuster sind regelmäßig angeordnete dünne Schnittwunden an den Unterarmen oder Beinen, die sich in unterschiedlichen Heilungsstadien befinden. Die Wunden und zurückbleibenden Narben wollen die Betroffenen um jeden Preis verbergen. Wenn Jugendliche auch im heißen Sommer kurzärmelige T-Shirts und kurze Röcke meiden, kann dies ein Hinweis auf selbstverletzendes Verhalten sein. Auch veränderte Verhaltensweisen, wenn sich etwa begeisterte Schwimmer plötzlich von den Badeanstalten fernhalten, können darauf hindeuten. Manchmal entdecken Bezugspersonen und sogar Außenstehende zufällig die Narben, wenn beispielsweise der T-Shirt-Ärmel versehentlich hochrutscht und die Sicht auf die Verletzungen freigibt.
Die Scham bei den Selbstverletzern ist in der Regel so groß, dass sie alles vehement abstreiten, Ausreden für die Verletzungen erfinden und immer wieder betonen, alles im Griff zu haben. Bei Nachfragen verweigern sie ein Gespräch. Oft kann die Patienten, wenn überhaupt, nur ein Therapeut erreichen. Dieser kann das Ausmaß der Erkrankung unter anderem mit Fragebögen wie dem Self-Harm-Questionnaire (3) feststellen.
Wunden müssen heilen
Mit den Selbstverletzungen aufhören können Betroffene häufig erst dann, wenn sie die psychischen Ursachen aufgearbeitet haben. Das kann oft nur mit einer Therapie gelingen. Ein möglichst frühzeitiger Kontakt zu einem Kinder- und Jugendpsychiater oder einem Psychotherapeuten verbessert die Heilungschancen. Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist, dass der Jugendliche überhaupt gesund werden und mit den Selbstverletzungen aufhören will. Neben einer Aufarbeitung der Ursachen und einer Stärkung des Selbstwertgefühls sollten Selbstverletzer auch gesunde Bewältigungsstrategien erlernen, um mit Problemen umzugehen. Dabei kann eine Verhaltenstherapie helfen. »Gute Belege gibt es für die Wirksamkeit der Dialektisch Behavioralen Therapie nach Marsha Linehan. In dieser Form der Verhaltenstherapie konnte in kontrollierten Therapiestudien eine Reduktion selbstverletzenden Verhaltens gezeigt werden«, berichtet Plener gegenüber der PZ. Ferner könne besonders in schweren Fällen eine medikamentöse Behandlung helfen. »Dabei geht es vor allem darum, begleitende Krankheitsbilder, etwa eine Depression, adäquat zu behandeln.« Neben antidepressiv wirkenden Pharmaka würden mitunter auch Medikamente aus der Klasse der atypischen Antipsychotika verwendet, so Plener.
Neben einer seelischen Behandlung bedürfen auch die äußeren Wunden und Narben Aufmerksamkeit. Viele Selbstverletzer horten Pflaster und Verbandsmaterial und verarzten sorgfältig die Wunden, die sie sich selbst beigebracht haben. Die entstehenden Narben würden viele am liebsten ungeschehen machen. Manchmal sind es ganz bestimmte, nicht gerade die auffälligsten oder größten Narben, aber solche, mit denen die Betroffenen bestimmte Erlebnisse verbinden, die sie unbedingt loswerden wollen. Je nach Art der Narbe können eine Lasertherapie, chemische Peelingbehandlungen, eine Unterspritzung mit Hyaluronsäure oder mit einer corticoidhaltigen Lösung oder auch ein chirurgischer Eingriff notwendig sein. Der geeignete Ansprechpartner dafür ist der Hautarzt. In der Apotheke gibt es Salben und Cremes zur Narbenbehandlung sowie Narbenreduktionspflaster, die Narben abmildern können. Vor überzogenen Erwartungen wie einem völligen Verschwinden der Narben und schnellen Erfolgen sollte jedoch gewarnt werden. Für auffällige Narben etwa im Gesicht kann der Apotheker stark abdeckendes Camouflage-Make-up empfehlen.
Sozialer Rückhalt hilft
Besser als hinterher Narben zu behandeln, ist es, junge Menschen von vorneherein so zu stärken, dass sie gar nicht erst zu selbstverletzendem Verhalten greifen. In der Prävention kommt Eltern, Lehrern und anderen Bezugspersonen eine wichtige Rolle zu. Sie sollten den Jugendlichen und seine Probleme ernst nehmen und ihm zeigen, dass er ein wertvoller und liebenswürdiger Mensch ist. Um innere Anspannungen zu lösen, sollte man Heranwachsenden zu einem sportlichen Ausgleich oder zu Entspannungstechniken wie Yoga raten. Angestaute Energien können junge Menschen abbauen, indem sie auf einen Punchingball einschlagen, sich auf einem Trampolin verausgaben oder in ein Kissen boxen. Kommt dennoch der Impuls auf, Aggressionen gegen sich selbst zu richten, so sollten unblutige und weniger problematische Handlungen als die selbstverletzenden gewählt werden. Infrage kommen kalt duschen, Eiswürfel lutschen oder eine Chilischote essen. Dabei führen sich die Betroffenen starke Reize zu, die ohne den Körper zu verletzen vom inneren Schmerz ablenken und Erleichterung verschaffen können. Wohltuend ist es auch für junge Menschen, wenn sie in Krisensituationen mit einer vertrauten Person sprechen können. Im Notfall kann ersatzweise die Telefonseelsorge Trost spenden und sei es nur durch Zuhören. Manchmal kann schon dadurch die Last, die auf der Seele ruht, leichter werden. Und das ganz ohne Blutvergießen. /
Quellen:
<typolist type="1">
Madge, N., et al., Comparative findings from the Child & Adolescent Self-harm in Europe (CASE) Study. Journal of Child Psychology and Psychiatry (2008), doi: 10.1111/j.1469- 7610.2008.01879.
Plener, P. et al. An international comparison of adolescent non-suicidal self-injury (NSSI) and suicide attempts: Germany and the USA. Psychological Medicine (2009), doi: 10.1017/S0033291708005114.
Self-Harm-Questionnaire: www.palace.net/llama/psych/qnaire.html