Explosionen im Erbgut |
06.02.2012 15:12 Uhr |
Von Maria Pues / Tumorwachstum ist meist die Folge einer allmählichen Anhäufung einzelner Veränderungen im Erbgut. Manche Mutationen hinterlassen jedoch ein wahres Chromosomen-Trümmerfeld.
Seit 1979 kennt man das Protein p53, den »Wächter des Genoms«. Bei Schädigung einer Zelle bremst es die Geschwindigkeit des Zellzyklus, um Reparaturmechanismen mehr Zeit für ihre Arbeit zu geben. Bei irreparablen Schäden leitet es den programmierten Zelltod (Apoptose) ein.
Aufgrund seiner großen Bedeutung wurde p53 1993 zum »Molekül des Jahres« gewählt. In manchen Tumoren wirkt es als Tumorsuppressor. Mutationen im Gen, das für p53 codiert, haben ein erhöhtes Krebsrisiko zur Folge. Manche Betroffene erkranken im Laufe ihres Lebens nacheinander an mehreren verschiedenen Krebsarten.
Eine allmähliche Anhäufung von Mutationen, die nicht rechtzeitig, zum Beispiel durch p53, repariert werden konnten: So stellt man sich üblicherweise die Entstehung einer Tumorerkrankung vor, und in den meisten Fällen stimmt das auch. In der Genanalyse finden Wissenschaftler dann einzelne Erbgutdefekte. Es geht aber auch anders.
Ein wahres Chromosomen-Trümmerfeld fanden Heidelberger Forscher um Professor Dr. Peter Lichter und Dr. Stefan Pfister vom Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) sowie Dr. Jan Korbel aus dem European Molecular Biology Laboratory (EMBL) bei der Analyse von Tumor-Erbgut eines kleinen Mädchens, das an einem besonders aggressiven Hirntumor erkrankt war. Abschnitte einzelner Chromosomen seien an unzähligen Stellen zerbrochen und regelwidrig wieder zusammengebaut worden, heißt es in einer Presseinformation des DKFZ. Ganze Erbgutabschnitte fehlten, andere waren dagegen vervielfältigt oder in falscher Orientierung eingebaut worden. Kurzum: Erbgutdefekte in Tumorzellen, wie man sie bisher kannte, sehen anders aus.
Chromosomen-Chaos
Seit dem vergangenen Jahr gibt es für derartige Chromosomen-Trümmerfelder einen Begriff: Chromothripsis. Das erst kürzlich entdeckte Phänomen tritt bei etwa 2 bis 3 Prozent aller Krebserkrankungen auf. Es entstehe wahrscheinlich durch ein einzelnes Ereignis in der Zelle, das die Chromosomen geradezu explodieren lasse, meinen Wissenschaftler. Eine allmähliche Anhäufung einzelner Mutationen, wie man sie von den meisten Krebserkrankungen kenne, könne ein solches Durcheinander nicht erklären.
Nachdem sie die großflächige Chromosomen-Zerstörung im Erbgut des Mädchens entdeckt hatten, machten die Heidelberger Wissenschaftler Genanalysen mit Gewebeproben von weiteren 98 Patienten, die ebenfalls an diesem Hirntumor erkrankt waren. Das Ergebnis: Bei allen Patienten mit einem ererbten p53-Defekt fanden sie das Chromosomen-Chaos in den Krebszellen. Dagegen wies keine Tumorprobe mit intaktem p53-Gen das Schadensmuster auf. »Der Zusammenhang ist hoch signifikant«, erklärt Lichter.
»Eine p53-Mutation prädisponiert die Zelle offenbar für Chromothripsis. Allerdings wissen wir noch nicht, ob die Mutation die Chromosomen anfälliger und zerbrechlicher macht, oder ob sie die Zelle trotz Chromosomen-Chaos am Leben erhält. Eigentlich wäre der Zelltod die normale Reaktion auf so massive Erbgutschäden«, ergänzt sein Kollege Korbel.
Konsequenzen für die Therapie
Die Mediziner erwägen, bei allen Patienten mit dieser Art des Hirntumors nach Mutationen des Gens für das Protein p53 zu fahnden. »Liegt eine solche Mutation vor, so haben die Betroffenen, möglicherweise auch deren Angehörige, ein besonders hohes Krebsrisiko – ohne davon zu wissen«, sagt Pfister. »Entdecken wir einen erblichen p53-Defekt, so können wir engmaschige Früherkennungsuntersuchungen empfehlen, um mögliche Tumoren rechtzeitig in einem besser behandelbaren Stadium zu entdecken.«
Ein weiterer Grund spricht dafür, bei diesen Patienten nach erblichen p53-Mutationen zu fahnden: Liegt eine solche Mutation vor, ist besondere Vorsicht bei der Wahl der Behandlungsmethoden geboten, denn sowohl die Strahlentherapie als auch einige Zytostatika schädigen das Erbgut. Bei Menschen mit ererbtem p53-Defekt ist die DNA-Reparatur jedoch in allen Körperzellen beeinträchtigt, sodass therapiebedingte DNA-Schäden leicht zu weiteren Krebserkrankungen führen könnten.
Die Untersuchungen sind Bestandteil eines weltweiten Forschungsprojektes zur Sequenzierung von Tumor-Genomen (www.icgc.org) und wurden in der Januarausgabe der Zeitschrift »Cell« veröffentlicht (doi: 10.1016/j.cell.2011.12.013). /