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Gezielte Diagnostik rettet Leben

25.01.2006  11:12 Uhr

Mehrlingsgeburten

Gezielte Diagnostik rettet Leben

von Gudrun Heyn, Berlin

 

Bei Mehrlingen treten Komplikationen während der Schwangerschaft viel häufiger auf, als bei Feten, die sich im Uterus alleine entwickeln können. Sie werden zu früh geboren, haben eine hohe Mor-bidität und Mortalität. Doch nur bestimmte Mehrlinge leben besonders gefährlich. Rechtzeitig erkannt, können viele von ihnen gerettet werden.

 

Schon sehr früh in der Schwangerschaft werden die Weichen für Erkrankungen oder Komplikationen bei Mehrlingen gestellt. Dies hängt vor allem von der Form der Schwangerschaft ab, ob die Kinder ein- oder zweieiig sind und ob sie sich Fruchthülle und Mutterkuchen teilen müssen. Als innerste der beiden fetalen Eihäute umschließt das Amnion wie ein Sack Frucht und Fruchtwasser, während das Chorion als äußere fetale Eihaut mit der mütterlichen Eihaut die Plazenta (Mutterkuchen) bildet.

 

Etwa 70 Prozent aller Zwillinge sind zweieiig. Sie stammen aus zwei befruchteten Eizellen und gehen daher von Anfang an getrennte Wege, das heißt beide Kinder entwickeln eine eigenes Amnion und Chorion. Sie sind außer dem Platzmangel im Bauch nicht gefährdeter als andere Kinder. Bei eineiigen Zwillingen spielt dagegen der Zeitpunkt der Trennung eine wesentliche Rolle für das spätere Erkrankungsrisiko.

 

Eineiige Zwillinge entstehen durch die vollständige Teilung einer befruchteten Eizelle (Zygote). Findet diese Teilung innerhalb weniger Stunden nach der Befruchtung statt, wandern zwei Eizellen durch den Eileiter in die Gebärmutter. Dort können sie sich unabhängig voneinander ihren Platz suchen und einnisten. Jedes der beiden Kinder besitzt daher eine eigene Fruchthülle und einen eigenen Mutterkuchen. Dichorial-diamnial bezeichnen Mediziner diesen Zustand.

 

Erfolgt die Teilung zwischen dem vierten und siebten Tag nach der Befruchtung, hat sich die Zygote bereits zur Blastozyste weiterentwickelt und in der Gebärmutter festgesetzt. Es entsteht eine monochorial-diamniale Schwangerschaft, bei der sich die Kinder eine Plazenta teilen müssen. Sie haben jedoch ein eigenes Amnion, so dass zwischen ihnen zumindest eine Trennwand von zwei fetalen Eihäuten existiert.

 

Mit einer Inzidenz von weniger als 1 Prozent entstehen monozygote Zwillinge durch eine Teilung, die erst zwischen dem achten und zehnten Tag nach der Befruchtung stattfindet. Die Blastozyste hat sich bereits in die Gebärmutter eingenistet, eine Plazenta entwickelt und auch ein Amnion vollständig ausgebildet. Zwischen den Kindern einer monochorial-monoamnialen Zwillingsschwangerschaft gibt es daher keine trennenden Eihäute mehr.

 

Äußerst selten kommt es vor, dass sich die Blastozyste bei der Entstehung einer solchen Zwillingsschwangerschaft nicht vollständig trennt. Siamesische Zwillinge sind das Ergebnis. Zumeist findet dieser Teilungsversuch erst 13 bis 18 Tage nach der Befruchtung statt.

 

Erhöhte Mortalität

 

Bei jeder fünften Mehrlingsschwangerschaft müssen sich die Kinder eine Plazenta teilen. »Bei diesen Kindern steigt die perinatale Mortalität von 6 auf 50 Prozent«, sagte Dr. Ömer Kilavuz vom Vivantes Klinikum Neukölln auf dem 22. Deutschen Kongress für Perinatale Medizin in Berlin. Eine monochoriale Schwangerschaft ist allein schon deshalb bedeutend gefährlicher als eine dichorial-diamniale Schwangerschaft, weil sich die Kinder nicht nur den Mutterkuchen teilen müssen, sondern auch vielfach durch Blutgefäße über die Plazenta verbunden sind. Es treten Verbindungen zwischen Arterien, zwischen Venen und zwischen Arterien und Venen auf. Die Zwillinge tauschen dadurch miteinander Blut aus. Gefährlich wird dieser Zustand, wenn ein Ungleichgewicht in der Blutzufuhr zwischen den betroffenen Feten besteht, was Mediziner als fetofetales Transfusionssyndrom (FFTS) bezeichnen. Bei etwa 30 Prozent der monochorialen Schwangerschaften ist dies der Fall.

 

Meist ist der blutspendende Mehrling unterernährt und kann von seinen Geschwistern regelrecht plattgedrückt werden (Fetus papyraceus). Wachstumsretardierung, Blutarmut und Mangel an Fruchtwasser durch eine zu geringe Urinausscheidung sind typisch für den so genannten Donor. Dagegen leidet der blutempfangende Mehrling auf Grund der großen Blutmengen, die er verarbeiten muss, häufig unter Flüssigkeitsansammlungen und Herzinsuffizienz. Oft ist der Akzeptor sehr groß und aufgedunsen. Überdies scheidet er große Mengen Urin aus. Der Uterus zeigt dann ein ungewöhnlich schnelles Wachstum, und die Schwangere leidet unter seiner Größe. Kommt es dabei zu einer Überdehnung, können vorzeitig Wehen einsetzen und die Fruchtblase platzen. Monochoriale Schwangerschaften mit FFTS haben unter anderem deshalb ein fünffach höheres Risiko für eine Frühgeburt.

 

Bei einer monochorial-monoamnialen Schwangerschaft sind neben dem FFTS auch noch weitere Gefahren zu befürchten. Zwischen den Kindern fehlen die trennenden Eihäute, so dass es hier leicht zu Nabelschnurumwicklungen kommen kann. Sie sorgen nicht nur für Komplikationen bei der Geburt, sie sind auch ein häufiger Grund für Wachstumsretardierungen und den Tod des Kindes im Mutterleib.

 

»Deutlich mehr Mehrlingskinder könnten überleben, wenn rechtzeitig und gezielt eine gute Diagnostik durchgeführt und entsprechend gehandelt werden würde«, sagte Kilavuz. Zwischen der sechsten und achten Schwangerschaftswoche sollte bereits mithilfe einer Ultraschalluntersuchung festgestellt werden, ob etwa eine monochoriale Mehrlingsschwangerschaft vorliegt. Wenn die Feten größer sind, ist es gegebenenfalls schwierig, diese Komplikation optisch zu diagnostizieren. Werden die Risikokinder jedoch rechtzeitig erkannt und ständig überwacht, kann im Notfall immer gezielt eingegriffen werden. So ist es etwa möglich, bei einem FFTS plazentare Gefäße mithilfe eines Lasers zu verschließen. Eine Fruchtwasserpunktion reduziert die Fruchtwassermenge des Akzeptors und kann somit das Risiko einer Frühgeburt verringern. Die Gabe von Digitalis in utero kann verhindern, dass der Akzeptor eine Herzinsuffizienz entwickelt.

 

Im Notfall entbinden

 

Reifere Feten, deren Leben in Gefahr ist, sollten entbunden werden. Oft stehen die Mediziner dabei vor einer schwierigen Entscheidung. Es gilt den optimalen Zeitpunkt zu finden, bei dem die Kinder draußen mehr profitieren als im Mutterleib. »In der Regel ist dies nicht so einfach«, sagte Professor Dr. Rolf Maier von Klinikum der Philipps-Universität Marburg. Je länger Feten im Mutterleib aufwachsen können, desto seltener sind Komplikationen, wie Hirnblutungen, Sepsis und Atemnotsyndrom. Außerdem leiden bis zu einem Drittel aller Frühchen, die vor der 24. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, unter einer schweren körperlichen und geistigen Behinderung.

 

Auch bei höhergradigen Mehrlingen ist der Zeitpunkt der Entbindung ganz entscheidend für den Gesundheitszustand und die Überlebenschance der Kinder. In den Niederlanden versuchen Mediziner daher auch dann die verbleibenden Mehrlinge im Mutterleib zu halten, wenn eines der Kinder zu früh geboren wird. Bei der Erstentbindung sind Antibiotika unverzichtbar. Damit die anderen Kinder nicht folgen, werden anschließend wehenhemmende Mittel, so genannte Tokolytika, eingesetzt. Bisher wandten Mediziner des Zentrums für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Zwolle diese Methode bei 41 Schwangeren erfolgreich an. Mehr als 100 Tage beträgt inzwischen die größte Differenz zwischen der ersten Geburt und dem Verbleib der weiteren Mehrlinge im Mutterleib.

 

Obwohl die Methode bei Drillingen in der Regel nicht so gut funktioniert wie bei Zwillingen, rechtfertigen die sehr viel bessere Überlebensrate und der Gesundheitszustand der zweitgeborenen Kinder den Einsatz der Mittel, lautete die erste Zwischenbilanz aus Holland.

 

In Deutschland werden Mehrlinge vorzugsweise ab der 32. oder 34. Schwangerschaftswoche auf die Welt geholt. Dann ist normalerweise die Lunge ausgereift, und Komplikationen treten nur noch selten auf. Kinder ab einem Gestationsalter über der 21. Schwangerschaftswoche können intensivmedizinisch betreut werden. Dabei hängt die Therapieentscheidung individuell vom Reifegrad des Kindes ab. Ab der 24. Schwangerschaftswoche sind therapeutische Maßnahmen die Regel und ab der 25. Woche ein Muss. Alle diese Kinder haben in Deutschland relativ gute Aussichten. So ergab die große europäische Mosaic-Studie, dass Frühchen hier zu Lande neben Großbritannien europaweit die besten Überlebenschancen haben.

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