Arzneimittel-Hamsterkäufe durch Gerüchte und Lockdown |
Daniela Hüttemann |
30.07.2021 12:30 Uhr |
Gerade zu Beginn der Coronavirus-Pandemie waren der Ansturm auf die Apotheken und der Beratungsbedarf groß. / Foto: Getty Images/Smederevac
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DAPI wollten wissen, wie genau sich der Gebrauch bestimmter Arzneimittel außerhalb des Krankenhauses in Deutschland während der ersten Welle der Pandemie entwickelt hat. Es ging dabei vor allem um Arzneimittel, für die erste Veröffentlichungen einen Nutzen oder Risiken bei Covid-19 postulierten, zum Beispiel das Malaria- und Rheumamittel Hydroxychloroquin, das Schmerzmittel Ibuprofen oder auch ACE-Hemmer. Hier gab es jeweils ein großes Echo in den (sozialen) Medien, obwohl es sich nur um erste Hypothesen handelte, von denen sich viele nicht bewahrheiteten.
Dazu wertete das Team um Salka Enners, Apothekerin und Referentin für Pharmakoepidemiologie, und Professor Dr. Martin Schulz, Geschäftsführer Pharmazie des DAPI, die Abrechnungsdaten von rund 19.000 Apotheken in Deutschland zulasten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) aus. Für Paracetamol und Ibuprofen lagen auch Daten aus dem OTC-Bereich und Abgaben an Privatversicherte des Informationsdienstleisters Insight Health vor. Die Auswertung erschien jetzt im Fachjournal »Pharmacoepidemiology and Drug Safety«.
Dabei teilten die Forschenden das erste Halbjahr 2020 in drei Abschnitte ein und verglichen diese mit den entsprechenden Vorjahreszeiträumen. Der erste Abschnitt betraf Januar bis zur Woche vom 16. bis 22. März, als es zum ersten Lockdown kam. Der zweite Abschnitt umfasste den Lockdown bis zur Woche vom 13. bis 19. April, wonach es zu schrittweisen Lockerungen kam. Der dritte Abschnitt reichte vom 20. April bis Ende Juni. »Wie auch in anderen Ländern können wir hier ungewöhnliche Bewegungen erkennen«, erklärt Studienleiter Schulz gegenüber der Pharmazeutischen Zeitung.
So stieg zum Beispiel die Zahl der abgegebenen verordneten Hydroxychloroquin-Packungen in der Woche vom 16. bis 22. März 2020 um 110 Prozent im Vergleich zum Vorjahr an. Dann ging sie bis Mitte April wieder leicht zurück. Bei diesem Wirkstoff hatte es in den USA, wo der damalige Präsident Donald Trump den Arzneistoff als »Game Changer« bezeichnete, deutlichere Verschiebungen gegeben: Die Absatzzahlen für alle Packungsgrößen schnellten dort in derselben Woche 214 Prozent in die Höhe, die der kleineren Packungen sogar um 1977 Prozent – eine halbe Million Packungen mehr als sonst gingen dort über den HV-Tisch.
Weltweit traten Lieferengpässe auf, was problematisch für Patienten mit Autoimmunerkrankungen war, die auf Hydroxychloroquin angewiesen sind. Zeitweise hatte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hier Restriktionen für die Abgabe ausgesprochen, obwohl sich Deutschland in Bezug auf die Packungen im vierstelligen Bereich und nicht wie die USA im sechsstelligen Bereich befand.
Für das ebenfalls anfangs – insbesondere in Kombination mit Hydroxychloroquin – als nutzbringend vermutete Antibiotikum Azithromycin konnte dieser Effekt dagegen in Deutschland nicht beobachtet werden. Insgesamt gingen die Antibiotika-Verordnungen im Laufe der ersten Welle sogar spürbar zurück, was daran liegen könnte, dass durch den Lockdown weniger Infektionen allgemein auftraten.
Einen großen Anstieg gab es bei den Pneumokokken-Impfstoffen, begründet wohl auch durch die Impfempfehlung des Bundesgesundheitsministeriums für alle Personen ab 60 Jahren. Bis Februar 2020 lagen die Abgabezahlen auf dem Vorjahresniveau, in der Woche vom 9. bis 15. März folgte ein Plus von 373 Prozent (auf 302.700 Packungen). Dann gab es ein Auf und Ab aufgrund der Lieferengpässe, insgesamt blieben die Zahlen aber im Vergleich zum Vorjahr deutlich im Plus.
Wie Apothekerinnen und Apotheker selbst am besten wissen, gab es im März und April 2020 einen regelrechten Ansturm auf Paracetamol. Tatsächlich stieg der Absatz im März 2020 um 111 Prozent auf mehr als acht Millionen Packungen gegenüber dem Vorjahreszeitraum, vor allem durch OTC-Verkäufe. Ibuprofen stieg im gleichen Zeitraum um 31 Prozent auf 4,66 Millionen Packungen. Im April sanken die Verkaufszahlen: um 36 Prozent bei Ibuprofen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum, bei Paracetamol um 19 Prozent. Das deutet auf eine Bevorratung hin – ähnlich wie beim Klopapier.
»Hier kamen wohl zwei Effekte zusammen«, vermutet Schulz. »Zum einen haben die Menschen ein Fieber- und Schmerzmittel im Haus haben wollen, zum anderen sollte es bevorzugt Paracetamol sein, weil es anfangs Spekulationen zu negativen Effekten von Ibuprofen bei Covid-19 gab und zeitweise sogar die Weltgesundheitsorganisation stattdessen den Gebrauch von Paracetamol empfahl.« Insgesamt sei der Effekt bei Ibuprofen moderat gewesen, während es bei Paracetamol bekanntlich monatelang zu Lieferengpässen kam.
Einen Hortungseffekt gab es auch bei Mitteln, die in das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS) eingreifen, also ACE-Hemmer und Sartane, sowie bei den Statinen Simvastatin und Atorvastatin. Hier stiegen die Abgabezahlen in der Woche vom 16. bis 22. März um 78 beziehungsweise74 Prozent. »Die betroffenen Patienten wollten sich wohl angesichts des drohenden Lockdowns und zur Vermeidung von Arztbesuchen bevorraten und die Ärzte sind dem nachgekommen«, so Schulz.
Immerhin ließen sich die Patienten demnach wohl nicht allzu sehr über Spekulationen verunsichern, dass ACE-Hemmer und Sartane das Risiko für eine Covid-19-Erkrankung erhöhen könnten, weil der ACE2-Rezeptor hochreguliert werden würde. Es zeigte sich auch bald, dass diese Angst unbegründet war und die dauerhafte Einnahme der Blutdrucksenker eher schützend als schädlich ist. Hier halfen wohl auch Appelle der Behörden, der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) und Fachgesellschaften, die Medikamente weiter einzunehmen, da ein Absetzen der Gesundheit deutlich mehr schaden würde als das hypothetisch erhöhte Risiko für Covid-19. Die DAPI-Wissenschaftler fanden zumindest keinen Hinweis auf eine Unterverschreibung.
»Grundsätzlich belegen unsere Daten, was Apothekerinnen und Apotheker beobachten konnten: Die Öffentlichkeit war angesichts des drohenden Lockdowns besorgt und wollte sich bevorraten«, fasst Schulz zusammen. »Das ist bei sehr häufig verordneten Arzneistoffen wie Statinen und ACE-Hemmern, die in der Regel in großen Mengen verfügbar sind, weniger dramatisch als bei speziellen wie Hydroxychloroquin.« Doch auch bei einem Kassenschlager wie Paracetamol sehe man, dass der Markt eine doppelt so hohe Nachfrage wie gewöhnlich nicht einfach verkrafte.
Die Auswertung unterstreiche auch, wie wichtig es sei, dass die Behörden frühzeitig drohende Lieferengpässe erkennen und gegensteuern – zum einen durch Restriktionen und klare Hinweise auf eine indikationsgerechte Verordnung, zum anderen durch Aufklärung der Gesundheitsberufe und vor allem auch der Bevölkerung. Zudem müsse die Arzneimittelversorgung grundsätzlich besser gegen Lieferengpässe gewappnet werden.