Alzheimer-Antikörper lassen das Gehirn schrumpfen |
Annette Rößler |
31.03.2023 07:00 Uhr |
Bei Alzheimer nimmt das Volumen des Gehirns ab. Einer Metaanalyse zufolge können Anti-Aβ-Antikörper, die in der Frühphase der Erkrankung eingesetzt werden, diesen Vorgang beschleunigen. / Foto: Getty Images/Andrew Brookes
Im Fachjournal »Neurology« berichtet ein Team um Dr. Francesca Alves von der University of Melbourne in Australien über die Ergebnisse eines systematischen Reviews mit Metaanalyse zur Wirkung von Anti-Amyloid-Wirkstoffen auf das Hirnvolumen. Demnach führen gegen β-Amyloid (Aβ) gerichtete monoklonale Antikörper bei Patienten mit der Alzheimer-Vorstufe leichte kognitive Beeinträchtigung (Mild Cognitive Impairment, MCI) zu einer beschleunigten Abnahme des Hirnvolumens.
Auch bei Alzheimer-Demenz schrumpft das Gehirn. Bei Patienten, die mit Anti-Aβ-Antikörpern behandelt werden, laufe dieser Prozess aber schneller ab, sodass sie in puncto Hirnvolumenverlust etwa acht Monate »Vorsprung« vor unbehandelten Patienten hätten, heißt es sinngemäß in der Publikation.
Von den Anti-Aβ-Antikörpern ist nach dem Aus von Aducanumab (Aduhelm® von Biogen und Eisai) derzeit Lecanemab der heißeste Kandidat für eine Zulassung in der EU. Dicht auf den Fersen ist ihm Donanemab von Eli Lilly. In den USA erteilte die Aufsichtsbehörde FDA Lecanemab, das wie Aducanumab Biogen und Eisai entwickelt haben und dort unter dem Handelsnamen Leqembi™ vertreiben, Anfang Januar 2023 die Zulassung in einem beschleunigten Verfahren.
Diese Entscheidung war jedoch umstritten. Denn für Lecanemab konnte in der zulassungsrelevanten Studie bei Patienten mit MCI zwar eine gewisse Bremswirkung auf den Verlauf der Erkrankung nachgewiesen werden. In der Studie waren aber bestimmte Auffälligkeiten auf Magnetresonanztomografie- (MRT-)Aufnahmen des Gehirns (Amyloid-related Imaging Abnormality, ARIA) unter Lecanemab signifikant häufiger als unter Placebo.
ARIA sind eine bekannte Nebenwirkung von Anti-Aβ-Antikörpern. Sie können sich als Ödeme oder Mikroblutungen im Gehirn darstellen, die bei Hirnscans sichtbar sind, meist aber keine Symptome machen. Als mögliche Ursache wird folgender Mechanismus diskutiert: Bei Patienten im Frühstadium der Alzheimer-Erkrankung kann es zu einer zerebralen Amyloid-Angiopathie (CAA) kommen, die durch Ablagerungen von Aβ-Plaques in der Wand von Blutgefäßen im Gehirn gekennzeichnet ist. Werden nun die Aβ-Plaques durch einen therapeutischen Antikörper beseitigt, kann das die Blutgefäße destabilisieren und durchlässiger machen.
Laut Alves und Kollegen könnten ARIA im Zusammenhang mit dem beobachteten Antikörper-assoziierten Volumenverlust stehen. In zwei großen Studien sei eine Behandlung mit Lecanemab in der mittlerweile in den USA zugelassenen Dosis innerhalb von 18 Monaten mit einem 28 Prozent höheren Volumenverlust als unter Placebo verbunden gewesen – in Millilitern ausgedrückt waren das 5,2 ml.
Zudem war die Gabe von Anti-Aβ-Antikörpern mit einer Vergrößerung der Hirnventrikel assoziiert. Hirnventrikel sind mit Liquor gefüllte Hohlräume im Gehirn. Ihr Volumen kann zunehmen, wenn das benachbarte Hirngewebe atrophiert. In der Metaanalyse, die insgesamt 31 Studien einschloss, waren diejenigen Antikörper mit den höchsten ARIA-Raten auch mit größeren Volumenzunahmen der Ventrikel assoziiert. Lecanemab in der zugelassenen Dosis bewirkte eine Vergrößerung der Ventrikel um 36 Prozent (1,9 ml) verglichen mit Placebo.
»Als wir diese Daten zusammenfügten, war ich schockiert«, wird Professor Dr. Scott Ayton, Seniorautor der Studie, auf der Nachrichtenseite des Fachjournals »Science« zitiert. Er sehe zwischen ARIA und der Abnahme des Hirnvolumens folgenden – noch unbewiesenen – Zusammenhang: ARIA zeigten auf Hirn-MRT Anzeichen einer Entzündung und es sei »unstrittig, dass eine Neuroinflammation zu Neurodegeneration führen kann«. Er vermute, dass bei Patienten, die unter einer Anti-Aβ-Therapie ARIA entwickeln, später das Hirnvolumen entzündungsbedingt abnehme, sodass sich die Hirnventrikel mit mehr Flüssigkeit füllten.
In dem »Science-News«-Artikel kommen verschiedene andere Experten zu Wort, die diese Sorge teilen, aber auch Lecanemab-Hersteller Eisai, der beschwichtigt: In der Zulassungsstudie sei zwar bei Teilnehmern unter Lecanemab ein stärkerer corticaler Volumenverlust eingetreten als unter Placebo. Dies sei aber womöglich auf die Beseitigung von Aβ und einer damit einhergehenden Abnahme der Entzündung zurückzuführen. Gemäß dieser Theorie wären ARIA also womöglich nicht mit einer Entzündung assoziiert, sondern im Gegenteil mit deren Rückgang.
Wie »Science News« berichtet, fiel der FDA der Volumenverlust zwar auf, man habe diesen Befund bei der Behörde aber angesichts der erwünschten Wirkung des Antikörpers – einer nachgewiesenen Verlangsamung des kognitiven Abbaus – in seiner klinischen Bedeutung als fragwürdig eingestuft. Ayton und andere Wissenschaftler kritisieren dagegen, dass es noch viel zu wenig publizierte Daten dazu gebe, wie sich der Volumenverlust klinisch und kognitiv für die Patienten auswirkt.
Es bleibt abzuwarten, wie es mit Lecanemab in den USA und Europa weitergeht. Eisai und Biogen haben bei der FDA weitere Daten eingereicht, die eine Umwandlung der beschleunigten Zulassung in eine reguläre Zulassung rechtfertigen sollen. Im Juli soll darüber entschieden werden. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat im Januar dieses Jahres damit begonnen, den Zulassungsantrag für Lecanemab zu prüfen.
Gut möglich, dass die EMA auch bei diesem Antikörper wieder kritischer ist als die FDA. Die Zulassung von Aducanumab hatte die europäische Behörde anders als die US-amerikanische bereits von vorneherein verweigert. Allerdings war den Herstellern bei Aducanumab im Gegensatz zu Lecanemab nicht der Nachweis gelungen, dass sich der Rückgang der Aβ-Plaques auch klinisch auf die Kognition und die Alltagstauglichkeit der Patienten auswirkt.