Alles beginnt im Darm |
Ob Veränderungen im Darmmikrobiom eher Spiegel oder bestimmender Faktor für gesundheitliche Belange sind, ist nach wie vor ungeklärt. / Foto: Adobe Stock/sdecoret
Die Gesamtheit der Darmmikrobiota – hauptsächlich Bakterien, aber auch Archaeen, Viren und Pilze – wird heute als eigenständiges endokrines Organ betrachtet. Es trägt wesentlich dazu bei, die Darmbarriere aufrechtzuerhalten und potenziell pathogene Keime und ihre Toxine am Übertritt ins Blut zu hindern. Zudem hat das Mikrobiom einen regulierenden Einfluss auf die Immunaktivität; ihre Bewohner sorgen wesentlich für Reifung und Erhalt des darmassoziierten Immunsystems, indem sie diesem gewissermaßen als Trainingspartner dienen.
Mithilfe seiner Bakterien und deren Stoffwechselprodukte steht der Darm mit verschiedenen anderen Organen in ständigem Austausch und kommuniziert regelrecht. Das Modell einer Darm-Hirn- und Darm-Lungen-Achse gilt als etabliert. Dieser »Crosstalk« oder bidirektionale Austausch wird über Metabolite der Darmbakterien wie kurzkettige Fettsäuren und Darmimmunzellen, die in Richtung Gehirn und Lunge wandern, vermittelt.
Eine gestörte Darmökologie wird daraus folgend mit chronischen Entzündungen in Verbindung gebracht und könnte an der Entstehung zahlreicher Erkrankungen beteiligt sein – nicht nur solchen, die den Magen-Darm-Trakt betreffen, sondern auch von Diabetes und Adipositas bis hin zu neurologischen Erkrankungen, Allergien, Atemwegserkrankungen. »Gesichert wissen wir heute lediglich, dass bei vielen Erkrankungen das Mikrobiom verändert ist. Aber eine kausale Beziehung zwischen Erkrankung und Veränderungen im Mikrobiom ist nur bei Clostridioides difficile und der damit verbundenen Antibiotikatherapie nachgewiesen«, sagt Professor Dr. Andreas Stallmach, Direktor der Klinik für Innere Medizin am Universitätsklinikum Jena, in einer aktuellen Pressemitteilung der Deutschen Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS).
Dass ein nachhaltig beschädigtes Mikrobiom geheilt werden kann, ist denn auch lediglich bei rezidivierenden C.-difficile-Infektionen bewiesen. So brachte der fäkale Mikrobiomtransfer signifikant höhere Heilungsraten (71 Prozent) als nach Gabe der Antibiotika Fidaxomicin (33 Prozent) oder Vancomycin (19 Prozent), zeigt etwa eine in »Gastroenterology« publizierte Studie. Meist reicht eine einmalige Transplantation von Stuhl Gesunder aus (oral, endoskopisch oder als Einlauf). Dennoch gehört hierzulande die Stuhltransplantation noch nicht zu den Standardtherapien. Ganz im Gegensatz zu den USA: Dort hat vor etwa einem Jahr die US-amerikanische Gesundheitsbehörde FDA das erste Präparat zur Fäkaltransplantation zugelassen (Vowst™).
Derzeit schickt sich die fäkale Transplantation auch an, den hohen Leidensdruck von Patienten mit Dickdarmentzündungen nehmen zu können. So war laut einer Metaanalyse aus dem Jahr 2021 bei Colitis ulcerosa der Behandlungserfolg vergleichbar mit dem einer medikamentösen Intervention mit Biologika. Allerdings wurde auch klar: Bei einer chronischen Erkrankung ist der einmalige Fäkaltransfer nicht ausreichend, um einen Krankheitsstillstand oder gar eine Remission zu erreichen. Am Universitätsklinikum in Jena sowie an weiteren Kliniken in Deutschland arbeite man im Rahmen der groß angelegten FRESCO-Studie derzeit mit oral verkapselten Bestandteilen gesunden Mikrobioms zur regelmäßigen Einnahme, so die DGVS.
Stallmach sieht in den derzeitigen Stuhltransplantaten eine Art Übergangslösung. „Wir müssen von der Stuhlspende wegkommen. Das Ziel müssen sogenannte rekombinante Mikrobiompräparate sein, die nur noch die wirksamen Bestandteile eines gespendeten Materials enthalten.“ Und hier liegt der Pferdefuß: Derzeit ist noch größtenteils ungeklärt, ob die therapeutischen Substanzen im Stuhl die Bakterien, ihre Metaboliten, Sporen oder eventuell Phagen oder Pilze sind, um auch vom Metabolom, also den Stoffwechselfunktionen der Mikroorganismen, profitieren zu können.
Und auch, was ein gesundes Mikrobiom auszeichnet, ist derzeit nicht geklärt. Denn die Variabilität ist enorm, nicht nur interindividuell, sondern auch auf übergeordneter Ebene. So hat etwa 2014 eine Untersuchung gezeigt, dass sich die Bakterienprofile der Darmmikrobiome gesunder Probanden abhängig von der Weltregion, in der die Menschen leben, voneinander unterscheiden.
Hinzu kommt, dass die verschiedenen Mikrobiome dynamisch sind und sich abhängig von Umgebungsbedingungen ändern. Für das Darmmikrobiom macht es etwa einen Unterschied, ob der Mensch gerade schläft, sich bewegt oder auf einem Langstreckenflug befindet, und erst recht, ob er etwas gegessen hat – und was. Abhängig von den wechselnden Anforderungen scheinen einmal die einen Mikroorganismen wichtig zu sein, dann die anderen. Deshalb ist ein entscheidender Faktor für ein gesundes Darmmikrobiom seine Diversität.
Die Realität sieht jedoch anders aus. In der industrialisierten Welt registrieren Wissenschaftler seit einiger Zeit mit Sorge, dass die Bakterienvielfalt in Körpern der Menschen zusehends schrumpft – anders als bei Menschen etwa im Amazonas-Gebiet, die sich von den Früchten, Pflanzen und Kleintieren des Regenwalds ernähren und offenbar deshalb über einen großen Artenreichtum an Mikroorganismen verfügen.
In einem internationalen Projekt soll nun gerettet werden, was noch zu retten ist: Mit einem riesigen Tresor für menschlichen Kot, dem »Microbiota Vault« – ähnlich dem Saatgut-Tresor auf Spitzbergen, wo Samen etlicher Sorten von Nahrungspflanzen aufbewahrt werden – sollen die Mikrobiome indigener Völker in einem Tunnel in den Schweizer Bergen eingelagert werden. Derzeit lagern in Tiefkühlschränken bei minus 80 Grad rund 2500 Stuhlproben, unter anderem aus Äthiopien, Laos, Puerto Rico und der Schweiz. Demnächst sollen dann Zehntausende Proben aus aller Welt in Zürich landen.
Beste Bedingungen für ein möglichst breit aufgestelltes Ökosystem im Darm lassen sich am besten mit einer pflanzenbasierten und abwechslungsreichen Kost schaffen, da ist sich die Mikrobiomforschung heute einig. Obst und Gemüse ist dicht mit Bakterien besiedelt. Diese werden beim Verzehr mit aufgenommen und können die Artenvielfalt im menschlichen Darm erhöhen. Das zeigen etwa aktuelle Untersuchungen an der Technischen Universität Graz.
Grund für den gesundheitlichen Benefit durch ballaststoffreiche Ernährung sind darin enthaltene, unverdauliche Kohlenhydrate. Diese dienen einigen Bakterien als wichtigste Nahrungsquelle – wobei kurzkettige Fettsäuren entstehen; Acetat, Butyrat und Propionat gelten als die wichtigsten. Sie sind wesentlich dafür verantwortlich, dass die Darmschleimhaut gut gedeiht, dass sie integer bleibt und nicht durchlässig für Pathogene wird sowie darunterliegende Immunzellen so erzogen werden, dass sie regulatorische T-Zellen bilden – Hautverantwortliche für immunologische Toleranz.
Wissenschaftler der Universitätsmedizin Leipzig und des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig haben eine ballaststoffreiche Kost unter die Lupe genommen und aktuell im Fachjournal »Gut« publiziert. Danach können Zwiebeln, Lauch, Artischocken, Weizen, Bananen und vor allem Chicoree die Zusammensetzung der Darmbakterien von Übergewichtigen so verändern, dass dies einen günstigen Einfluss auf Belohnungssignale im Gehirn und damit verbundene Essentscheidungen hat.
Eine einseitige Ernährung mit einem hohen Fast-Food-Anteil kann dagegen das Keimspektrum im Darm einschneidend verengen – und dadurch etwa Allergien begünstigen, zeigte etwa 2018 eine Untersuchung . Die Regel »artenreiches Mikrobiom = gesund« gilt im Übrigen nicht nur für den Darm, sondern auch für die Haut. So ist etwa die Haut von Patienten mit atopischem Ekzem von einer drastischen Abnahme der Bakterienvielfalt gekennzeichnet, Staphylococcus aureus dominiert und verdrängt andere Arten. Ein Ansatz für die Therapie besteht darin, probiotische Bakerienstämme in Form eines Bades auf die Haut aufzubringen und dadurch S. areus zurückzudrängen (in Activaderm®), haben Untersuchungen von Professorin Dr. Michaela Axt-Gadermann von der Hochschule Coburg ergeben.
Neurodermitis gilt auch als potenzieller Ausgangspunkt oder sogenannter Türöffner eines sogenannten atopischen Marsches. Das bedeutet, dass ein Kind mit atopischem Ekzem später auch weitere Allergien wie Nahrungsmittelallergien, Heuschnupfen und schließlich Asthma entwickelt. Hier sehen Wissenschaftler das Potenzial zur Intervention, nach dem Motto »Stopp des Ekzems bedeutet Stopp des allergischen Marsches«. Dies könnte etwa durch eine gute Hautpflege bereits von Neugeborenen mit hohem Neurodermitis-Risiko gelingen, wie eine Publikation aus dem Jahr 2021 gezeigt hat.
Besonders in den ersten Lebensjahren scheint die enterale Mikrobiota für Störfaktoren sensibel zu sein. Vermutlich entwickeln sich die Enterotypen bezüglich ihrer Diversität bis zum dritten Lebensjahr. Und in dieser Zeit scheint das Zusammenspiel von Immunsystem und Darmbakterien sehr prägend zu sein. Klinische Studien dokumentieren, dass Antibiotika – eine fünftägige Antibiotikaeinnahme dezimiert die Darmflora um 30 Prozent – in den ersten sechs Lebensmonaten mit einem erhöhten Risiko für Allergien, Asthma oder Ekzemen im Kindesalter verbunden ist. Ein ähnlicher Zusammenhang konnte für die Antibiotikaeinnahme im ersten Lebensjahr und der Entwicklung einer entzündlichen Darmerkrankung gezeigt werden, gleiches gilt für Übergewicht und Typ-2-Diabetes.
Die Gabe von Probiotika scheint auch ein vielversprechender Ansatz in der Therapie von Pollenallergikern zu sein. So zeichnete etwa die Europäische Stiftung für Allergieforschung (ECARF) an der Charité das Präparat Pollagen® – ein Nahrungsergänzungsmittel, das Lacto- und Bifidobakterien sowie prebiotische Fructo-Oligosaccharide enthält – mit dem ECARF-Qualitätssiegel für Allergikerfreundlichkeit aus.
»Nach unseren Untersuchungen ist es möglich, durch die perorale Zufuhr lebender Bakterien die Symptomatik bei Gräserpollen-Allergikern zu beeinflussen – und zwar positiver als noch vor ein paar Jahrzehnten gedacht«, sagte Professor Dr. Karl-Christian Bergmann in seiner Funktion als klinischer Studienleiter der ECARF-Stiftung bei der jüngsten Pressekonferenz. Die Symptomlinderung durch eine dreiwöchige Einnahme scheine längerfristig zu sein. Noch Monate später hätten die Studienteilnehmer von der Einnahme des Probiotikums profitiert, sagte der Allergologe.
Privat beauftragte Mikrobiomanalysen per Stuhltests seien zu oberflächlich und nicht zweifelsfrei interpretierbar. Deshalb rät die Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) von kommerziellen Mikrobiomtests ohne ärztliche Beratung ab.
Ein aktuell in »Science« publiziertes Paper belegt: Viele der von den Unternehmen behaupteten Fähigkeiten, von der Norm abweichende Mikrobiome erkennen zu können, sind nicht durch Forschungsergebnisse gestützt. Vor dem Hintergrund, dass »derzeit keine Einigkeit darüber besteht, was eine gesunde Zusammensetzung des menschlichen Mikrobioms in einer Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe ausmacht«, sei mit den Tests eine kommerzielle Ausnutzung von Verbrauchern zu befürchten, schreibt die US-amerikanische Forschungsgruppe. In der Tat: Bei ihren Recherchen fanden die Wissenschaftler weltweit 31 kommerzielle Anbieter, von denen rund die Hälfte eigene Nahrungsergänzungsmittel aufgrund ihrer Testergebnisse empfehlen.
Um Verbraucher vor Schaden durch irreführende Testergebnisse zu schützen, sollten Regulierungsbehörden Anforderungen entwickeln, um die Konsistenz und Validität von Methoden und Behauptungen zu dokumentieren und nachzuweisen. Die Studie empfiehlt, dass Unternehmen ihre Testmethoden offenlegen und die analytische Gültigkeit ihrer Tests nachweisen müssen.