| Theo Dingermann |
| 29.12.2025 16:20 Uhr |
Stimulanzien machen das Gehirn wacher und lassen motivierende oder belohnende Reize besonders wichtig erscheinen, statt vorwiegend – wie bisher angenommen – die Aufmerksamkeit zu steigern. / © Getty Images/GIPhotoStock
Am 24. Dezember erschien in der Fachzeitschrift »Cell« eine Arbeit, die das jahrzehntelange wissenschaftliche Verständnis darüber auf den Kopf stellt, wie gängige ADHS-Medikamente im Gehirn wirken. Forschende um Professor Dr. Benjamin P. Kay von der Washington University School of Medicine in St. Louis, USA, fanden heraus, dass verschreibungspflichtige Stimulanzien wie Methylphenidat oder Dexamphetamin in erster Linie die Belohnungs- und Wachheitszentren des Gehirns aktivieren – und nicht die Aufmerksamkeitsschaltkreise, was die vorherrschende Theorie hinter ihrer therapeutischen Anwendung in Frage stellt.
Damit deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Medikamente die Leistung verbessern, indem sie ADHS-Patienten aufmerksamer und motivierter machen, Aufgaben zu erledigen – anstatt ihre Fähigkeit, sich zu konzentrieren, direkt zu verbessern.
Methodisch stützt sich die Arbeit auf zwei komplementäre Datensätze:
Beim Vergleich der Gehirnkonnektivitätsmuster zeigte sich: Kinder, die am Tag ihrer Untersuchung verschreibungspflichtige Stimulanzien eingenommen hatten, zeigten eine erhöhte Aktivität in Hirnregionen, die mit Erregung und Belohnungsvorhersage zusammenhängen, jedoch nicht in Bereichen, die klassischerweise mit Aufmerksamkeit assoziiert werden. Das Forschungsteam validierte diese Beobachtungen bei fünf gesunden Erwachsenen ohne ADHS, die vor und nach der Einnahme von Stimulanzien gescannt wurden.
Die stärksten mit Stimulanzien assoziierten Veränderungen der funktionellen Konnektivität finden sich in somato-kognitiven Aktions- und in primär sensorimotorischen Arealen sowie in auditorischen Regionen. Diese Netzwerke sind in der modernen funktionellen Neuroanatomie eng mit dem globalen Arousal-Zustand verknüpft und zeigen charakteristische Konnektivitätsmuster in Abhängigkeit von Wachheit, Vigilanz und Schlaf-Wach-Übergängen.
»Ich verschreibe als Kinderneurologe viele Stimulanzien, und mir wurde immer beigebracht, dass sie Aufmerksamkeitssysteme fördern, um Menschen mehr willentliche Kontrolle darüber zu geben, worauf sie ihre Aufmerksamkeit richten«, sagte Kay in einer Pressemitteilung seines Instituts. »Aber jetzt haben wir gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Vielmehr ist die Verbesserung der Aufmerksamkeit, die wir beobachten, ein sekundärer Effekt davon, dass ein Kind wacher ist und eine Aufgabe als lohnender empfindet«.
Die Studie ergab außerdem, dass Stimulanzien Gehirnaktivitätsmuster hervorrufen, die die Auswirkungen von gutem Schlaf nachahmen und die neuronalen Signaturen von Schlafentzug effektiv negieren. Kinder mit ADHS, die Stimulanzien einnahmen, zeigten bessere Noten und kognitive Testleistungen im Vergleich zu jenen, die dies nicht taten.
Allerdings waren die kognitiven Vorteile selektiv: Eine bessere Leistung nach der Einnahme von Stimulanzien zeigte sich nur bei Teilnehmern mit ADHS oder solchen, die zu wenig schliefen (weniger als die empfohlenen neun Stunden pro Nacht). Neurotypische Kinder, die ausreichend schliefen, zeigten dagegen keine verbesserte Leistung durch Stimulanzien – was Fragen aufwirft, warum diesen Kindern die Medikamente überhaupt verschrieben wurden.
»Wir sahen, dass wenn ein Teilnehmer nicht genug schlief, aber ein Stimulans einnahm, die Hirnsignatur von unzureichendem Schlaf gelöscht wurde, ebenso wie die damit verbundenen verhaltensbezogenen und kognitiven Beeinträchtigungen«, sagte Seniorautor Professor Dr. Nico Dosenbach in der Pressemitteilung.
Die Forschenden warnen vor langfristigen Konsequenzen, wenn der Leistungsanstieg trotz unzureichenden Schlafs pharmakologisch »erkauft« wird: Kay forderte Kliniker auf, Schlafentzug als Faktor bei ADHS-Diagnosen zu berücksichtigen, und merkte an, dass übermüdete Kinder klassische ADHS-Symptome wie Aufmerksamkeitsschwierigkeiten zeigen könnten, wenn das eigentliche Problem ein Schlafmangel ist.
Die Verhaltensdaten der ABCD-Kohorte stützen diese Interpretation. Stimulanzien verbesserten schulische Leistungen und Reaktionszeiten vor allem bei Kindern mit ADHS oder Schlafdefizit. Bei gut ausgeruhten, nicht an ADHS erkrankten Kindern ergaben sich hingegen keine relevanten Leistungsgewinne.
In der Gesamtschau argumentieren die Forschenden, dass Stimulanzien nicht primär die Aufmerksamkeit im Sinne einer verbesserten Top-down-Kontrolle erhöhen. Vielmehr verschieben sie den funktionellen Organisationszustand des Gehirns in Richtung erhöhter Wachheit und gesteigerter motivationaler Salienz. Damit ist gemeint, dass Reize als besonders bedeutsam oder auffällig wahrgenommen werden, wenn sie mit Motivation oder Belohnung verknüpft sind.
Die in der Studie berichteten Leistungsverbesserungen resultieren demnach aus erhöhter Vigilanz, schnellerer Reaktionsbereitschaft sowie aus einer Aufwertung ansonsten wenig intrinsisch motivierender Aufgaben – und nicht aus einer Steigerung kognitiver Kapazitäten per se. Dies erklärt, warum Stimulanzien besonders bei Personen mit ADHS oder Schlafdefizit wirken, warum sie subjektiv als leistungssteigernd erlebt werden und warum objektive kognitive Vorteile bei Gesunden häufig ausbleiben.