Wie schwer wird die kommende Grippewelle? |
Christina Hohmann-Jeddi |
14.10.2022 15:30 Uhr |
Grippeerkrankungen waren in den vergangenen zwei Jahren in Deutschland und weltweit sehr selten. / Foto: Shutterstock/sirtravelalot
Im Herbst steigt die Zahl der Atemwegserkrankungen (ARE) in Deutschland regelmäßig. In diesem Jahr sogar deutlicher als zuvor: »In den letzten Wochen stieg die ARE-Aktivität deutlicher an als in den Saisons vor der Covid-19-Pandemie und wird momentan hauptsächlich durch Rhinovirusinfektionen, Covid-19, Influenza und Parainfluenzavirus-Infektionen verursacht«, das schreibt die AG Influenza am Robert-Koch-Institut im aktuellen Wochenbericht.
Häufig wird gewarnt, dass nach zwei Jahren fast ohne Grippeaktivität in der Pandemie jetzt durch gelockerte Schutzmaßnahmen und gesunkenen Immunschutz gegen Influenza die kommende Grippewelle besonders stark ausfallen könnte. Hinweise darauf stammen vor allem aus Australien, wo die kalte Jahreszeit und damit die Grippesaison jetzt enden. Dort stieg in diesem Jahr die Zahl der Influenzainfektionen deutlich früher und stärker an als in den Vorjahren, aber fiel auch rasch wieder ab. Dem aktuellen Influenza-Surveillance-Bericht des australischen Gesundheitsministeriums zufolge wird die diesjährige Grippesaison insgesamt als »mild bis moderat« eingestuft.
Seit Mitte Juli liegt demnach die wöchentliche Zahl der von im Labor bestätigten Meldungen sogar unter dem Durchschnitt der vergangenen fünf Jahre. Insgesamt wurden bis Mitte Oktober etwa 225.000 Grippeerkrankungen an die zuständige Behörde gemeldet; in den Vorpandemiejahren 2019 waren es bis Mitte Oktober 298.000 gemeldete Infektionen, 2018 nur 44.700 und 2017 dagegen 230.000.
In diesem Jahr waren vor allem Kinder betroffen: Die meisten Infektionen wurden bei Menschen unter 19 Jahren gemeldet, heißt es im aktuellen Report. 55,1 Prozent der Personen, die mit bestätigter Influenza in ein Krankenhaus eingeliefert wurden, waren Kinder unter 16 Jahren. Die Zahl der grippeassoziierten Todesfälle liegt in diesem Jahr mit 308 Fällen unter der von 2019 (812 Tote) und der von 2017 (598 Tote). Die Wirksamkeit der Influenza-Impfung wird nach bisherigen Daten als im »niedrigen moderaten Bereich« eingeschätzt.
Was lässt sich daraus für die kommende Grippesaison auf der Nordhalbkugel sagen? Generell lasse sich der Verlauf von Grippewellen schlecht vorhersagen und hänge von verschiedenen Faktoren ab, betont Dr. Ralf Dürrwald, Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Influenza am RKI gegenüber dem Science Media Center Deutschland. »Was wir anhand unserer Surveillance-Systeme aktuell sehen, ist, dass sich Atemwegsviren zurzeit weitgehend ungebremst in der Bevölkerung verbreiten können – und damit auch Influenzaviren.«
Seit Ende September sei ein starker Anstieg der Grippeinfektionen zu verzeichnen gewesen, dieser Anstieg sei aber schwierig zu interpretieren. Eventuell würden wegen verstärkter Testung bei Atemwegserkrankungen jetzt Influenzafälle detektiert, die in den vorpandemischen Jahren um diese Zeit nicht erfasst worden wären.
Laut Professor Dr. Stephan Ludwig, Direktor am Institut für Molekulare Virologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, sollten uns für die kommende Grippesaison zwei Dinge zu denken geben: Zum einen, dass in der Vergangenheit auf eine schwache Grippewelle in einem Jahr eine stärkere im nächsten Jahr folgte, und zum anderen der Verlauf der Grippesaison in Australien – die Erreger der Südhalbkugel kämen auch auf der Nordhalbkugel an.
Im Verlauf der Grippesaison »down under« sieht Professor Dr. Anke Huckriede von der Universität Groningen in den Niederlanden keinen Grund zur Beunruhigung: Die Daten aus Australien, wo die Grippeaktivität rasch anstieg, aber auch rasch wieder abfiel, stützen die Befürchtung vor einer schweren Grippewelle hierzulande nicht.
Trotzdem könne das gleichzeitige oder kurz aufeinanderfolgende Auftreten von Infektionspeaks zu einer Belastung des Gesundheitssystems führen, durch mehr Patienten einerseits und Personalausfälle andererseits. »Für Menschen mit erhöhtem Infektionsrisiko und erhöhtem Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf ist neben einer Booster-Impfung für Covid-19 auch eine Grippeimpfung zu empfehlen«, sagt Huckriede. »Die Grippeimpfung ist zwar weniger effektiv als eine Covid-19-Impfung, aber bietet doch zumindest einigen Schutz.«
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.