Wie bedrohlich wird die Vogelgrippe für den Menschen? |
Theo Dingermann |
06.12.2024 16:20 Uhr |
Influenza-Viren mutieren bekanntlich schnell. Das Virus-Isolat eines erkrankten Farmmitarbeiters ist nur eine Mutation von einer hoch ansteckenden Variante entfernt zu sein. / © Getty Images/Science Photo Library/Kateryna Kon
Seit März 2024 wurden in den USA immer wieder Infektionen mit dem hochpathogenen aviären Influenzavirus (HPAI) H5N1 in Milchviehherden festgestellt. Mittlerweile wurde das Virus in mindestens 282 Herden in 14 US-Bundesstaaten nachgewiesen, wobei auch Übertragungen auf Hauskatzen, Geflügel und auf den Menschen dokumentiert wurden.
Die Übertragung auf den Menschen ist dabei sicherlich das vorherrschende Problem. Während der vergangenen acht Monate wurden von den US-amerikanischen Gesundheitsbehörden 57 derartiger Fälle registriert und kommuniziert. Das Besondere an diesen Fällen ist, dass alle Infektionen einen milden Krankheitsverlauf verursachten.
Damit konnte man nicht rechnen. Denn bisher ging man davon aus, dass das H5N1-Influenzavirus ein äußert gefährlicher Erreger sei. Seit mehr als zwei Jahrzehnten grassiert dieses Virus, und von Fällen, die in erster Linie in Asien und Ägypten auftraten, deutete sich eine Todesrate (Case Fatality Rate; CFR) unter den Erkrankten von bis zu 50 Prozent an. Diese Zahlen veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation. Sie stammen aus der Zeit zwischen 2003 und November 2024. Danach verstarben von den 948 bestätigten H5N1-Infizierten 464 der Betroffenen.
Die aktuellen Fälle in den USA zeigten alle einen so milden Verlauf, dass keiner der Betroffenen im Krankenhaus behandelt werden musste. Meist waren ausschließlich die Augen betroffen. Nur bei wenigen zeigten sich leichte Atemwegssymptome.
Dieser Krankheitsphänotyp legt allerdings auch nahe, dass die gemeldeten Fälle die tatsächliche Infektionslage bei Weitem nicht vollumfänglich widerspiegeln. Viele Arbeiter auf den Milchtierfarmen, die derzeit noch am ehesten gefährdet sind, stammen aus lateinamerikanischen Ländern. Sie sprechen kaum Englisch und halten sich nicht selten illegal im Land auf.
Hinweise für eine signifikante Zahl nicht gemeldeter Infektionen liefern auch serologische Studien, bei denen Blutproben von Arbeitern auf Milchtierfarmen auf H5N1-Antikörper getestet wurden. In etlichen dieser Proben wurden tatsächlich Antikörper nachgewiesen.
In den Tiermodellen der Wissenschaftler zeigt sich ein ganz anderes Bild. Die Tiere, in erster Linie Nerze, sind oft schwer krank und sterben an einer Infektion. Und auch unter den Rindern ist das Bild nicht einheitlich. Die aktuelle Situation in Kalifornien unterscheidet sich deutlich von den ursprünglichen Infektionen bei Rindern in Texas, Michigan oder Colorado. Diese Tiere zeigten kaum Krankheitssymptome. Am sichersten erkannte man eine infizierte Milchkuh daran, dass sie weniger Milch produzierte. Andererseits verstarben Katzen, die Milch infizierter Tiere getrunken hatten.
In Kalifornien hingegen erkrankten die Rinder stark, und tausende der Tiere verstarben. Dabei spielte wohl auch das Wetter eine Rolle. Besonders Hitze belastet die infizierten Tiere. Aktuell, während die Temperaturen in Kalifornien zurückgehen, sterben auch weniger Rinder. Letztlich ist das heterologe Pathogenitätsbild nicht verstanden, wie Experten übereinstimmend bestätigen.
Allerdings verlaufen auch beim Menschen die Infektionen nicht einheitlich. Schlagzeilen machte zu Beginn des Novembers der Fall eines kanadischen Teenagers. Er erkrankte offensichtlich ohne Kontakt zu einem infizierten Tier. Zunächst klagte auch er oder sie über eine Bindehautentzündung. Eine Woche später, am 8. November, hatte sich die Krankheit jedoch zu einer schweren Lungenentzündung entwickelt.
Obwohl sich der kanadische Teenager auch mit einem H5N1-Virus der Klade 2.3.4.4b infizierte, unterscheidet sich das Virus, das die Bezeichnung D1.1 trägt, von dem, das gerade in den USA vorherrscht. Das zeigt, wie variabel diese Viren sind, und wie leicht sie sich im Laufe der Replikation wandeln.
Am 22. November meldeten die US-Centers for Disease Control and Prevention (CDC) den ersten Fall von Vogelgrippe (H5N1) bei einem Jungen in Kalifornien. Kontaktpersonen sowohl des kalifornischen Kindes als auch des kanadischen Teenagers infizierten sich bisher nicht – eine gute Nachricht, die bestätigt, dass eine Übertragung von Mensch zu Mensch bisher nicht möglich ist.
Aktuell erschien im Fachjournal »Science« eine Studie, in der die Forschenden um Dr. Ting-Hui Lin vom Department of Integrative Structural and Computational Biology am Scripps Research Institute in La Jolla zeigen, dass es nur einer Glu226Leu-Mutation im Gen für das Hämagglutinin-Protein (HA-Protein) des Erregers bedarf, um die Bindung an humane Rezeptoren deutlich zu verbessern. Wurde eine zweite Mutation (Asn224Lys) eingeführt, könnte das Virus sogar ein »pandemisches Potenzial« erreichen, so die Vermutung der Forschenden. Diese besorgniserregende Hypothese leiten sie aus Untersuchungen mit dem Schweinegrippevirus H1N1 ab, das im Jahr 2009 eine Pandemie auslöste.
Die Forschenden führten ihre Untersuchungen an einen Virus-Isolat durch, das von dem ersten bekannten Patienten isoliert worden war, der sich an einem Rind angesteckt hatte. Die funktionellen Tests wurden aus Sicherheitsgründen nicht mit einem intakten Virus durchgeführt. Vielmehr wurden etablierte Methoden wie Oberflächenplasmonresonanz (SPR), ELISA und Glykan-Microarrays verwendet, um die Bindungsspezifität von Wildtyp-HA und mutierten Varianten zu untersuchen.
Zudem analysierten die Forschenden die Kristallstrukturen des HA-Proteins mit den beiden Sialopentasacchariden LSTa und LSTc. Diese Sialopentasaccharide sind Analoga der Rezeptoren bei Vögeln und beim Menschen, die dieselben drei terminalen Saccharide (Sia-Gal-GlcNAc) enthalten, jedoch mit unterschiedlichen glykosidischen Bindungen. Bei Vögeln ist die Verknüpfung der Zucker α2-3 (LSTa), wohingegen beim Menschen die Zucker α2-6 (LSTc) verknüpft sind.
Das Hämagglutinin des Virus-Isolats aus dem Patienten zeigte eine starke Bindung an aviane Rezeptoren (α2-3-verknüpfte Sialoside), jedoch keine nachweisbare Bindung an humane Rezeptoren (α2-6-verknüpfte Sialoside). Durch die Glu226Leu-Mutation wurde die Bindungsspezifität jedoch vollständig hin zu humanen Rezeptoren verschoben. Die zusätzlich eingeführte Asn224Lys-Mutation verbesserte die Bindungsstärke weiter.
Auf Nachfrage durch das Science Media Center betont der Leiter des Instituts für Virusdiagnostik (IVD) am Friedrich-Loeffler-Institut (Bundesforschungsinstitut für Tiergesundheit, Greifswald Insel Riems), Professor Dr. Martin Beer, dass die bisherigen Anpassungen der H5N1-Viren der Klade 2.3.4.4b im Menschen ausschließlich auf die Polymerase (PB2) beschränkt waren und so die Replikationsfähigkeit im Säugetierwirt steigern. Anpassungen an den humanen Rezeptor sind bei dieser Klade neu und bisher nur einmal im Fall des kanadischen Patienten berichtet worden.
Obwohl die Situation noch nicht kritisch ist, sollte die Zahl der humanen Infektionen so gut wie möglich kontrolliert werden. Voraussetzung dafür ist eine effiziente Kontrolle der Infektionen bei Nutztieren. Daher müssen in allen Bereichen engmaschige Früherkennungs- und Surveillance-Maßnahmen etabliert werden.
Ein engmaschiges Überwachungssystem fordert auch Professor Dr. Martin Schwemmle, Forschungsgruppenleiter am Institut für Virologie am Universitätsklinikum Freiburg. Er betont, dass Virus-Isolate aus Menschen und anderen Tieren unbedingt analysiert werden sollten.
Nur so könne das Auftreten weiterer Mutationen, die das Gefährdungspotenzial für den Menschen erhöhen, frühzeitig erkannt werden. Dies, so Schwemmle, sei insbesondere auch im Hinblick auf die bevorstehende Grippewelle und die Möglichkeit einer genomischen Reassortierung (Austausch genetischer Information) zwischen H5N1-Viren und humanen Influenzaviren von Bedeutung.