Wer ist innovativste der 49 Neulinge? |
Brigitte M. Gensthaler |
09.06.2023 11:00 Uhr |
PZ-Chefredakteur Sven Siebenand stellte wichtige Arzneistoffe aus dem Jahr 2022 vor – darunter auch den Gewinner des PZ-Innovationspreises. / Foto: PZ/Alois Müller
Der Jahrgang 2022 kann insgesamt 49 neue Wirkstoffe vorweisen. Rund die Hälfte der neuen Präparate ist als Sprunginnovation zu betrachten. Hinzu kommen viele Schrittinnovationen und nur wenige Analogpräparate. »Nicht nur die Menge, sondern auch die Qualität der neuen Arzneistoffe ist gut«, konstatierte Siebenand beim Pharmacon in Meran und besprach »6 aus 49 plus einen Zungenbrecher«.
Zu den innovativsten Substanzen des Jahrgangs zählte der Apotheker Daridorexant. Diese Einschätzung teilten sowohl die Jury des PZ-Innovationspreises als auch viele Apotheker: Daridorexant gewann den 29. PZ-Innovationspreis. Als Quviviq® (Idorsia Pharmaceuticals) kam damit im Dezember 2022 der erste duale Orexin-Rezeptorantagonist (DORA) und so ein neues Wirkprinzip zur Behandlung von Schlafstörungen auf den deutschen Markt.
Der Wirkstoff greift in das Orexin-System des Körpers ein und reduziert eine überaktive Wachheit, wie placebokontrollierte Studien belegten. Inzwischen zeigten Ein-Jahres-Daten eine anhaltende Wirksamkeit ohne Gewöhnungseffekte, Missbrauchspotenzial oder Entzugserscheinungen bei Absetzen. »Anders als bei Benzodiazepinen wird die Schlafarchitektur nicht beeinflusst und das Sicherheitsprofil ist gut«, resümierte Siebenand. »Daridorexant könnte eine Alternative zu Benzodiazepinen und Z-Substanzen werden, aber man soll sie nicht parallel geben.«
Hoffnung für Patienten mit schwerem Asthma bietet der Antikörper Tezepelumab (Tezspire®), der an einem neuen Target namens TSLP angreift. Vorteil: TSLP ist übergeordnetes epitheliales Zytokin, das mehrere Entzündungswege gleichzeitig kontrollieren kann. Das Biologikum reduzierte in Studien bronchiale Entzündung und Hyperreagibilität sowie Asthma-Exazerbationen deutlich. Es wird als Add-on-Therapie einmal pro Monat subkutan injiziert. Akute schwere Infektionen und Wurmerkrankungen müssen zuerst abheilen.
Wer ist geeignet für Tezepelumab? »Gut therapierte Patienten müssen nicht umgestellt werden, aber Patienten mit niedrigem Biomarker-Spiegeln oder gemischten Asthmaformen können profitieren.« Laut Siebenand könnte es eines Tages auch bei anderen Erkrankungen zum Einsatz kommen: »Vielleicht wird das Medikament in einigen Jahren ein kleiner Blockbuster mit verschiedenen Indikationen.«
Keine Zufälle wie bei der Ziehung der Lottozahlen: Die innovativsten der neuen Arzneistoffe 2022 wurden in Meran kritisch bewertet. / Foto: Imago / Fernando Baptista
Für Menschen mit einer chronischen Nierenerkrankung (CKD) gab es 2022 gleich zwei neue Substanzen: Finerenon bei Diabetes Typ 2 sowie Difelikefalin bei Juckreiz, beide in Verbindung mit einer CKD. Finerenon (Kerendia®) ist ein nicht steroidaler Rezeptorantagonist und wird als Nieren- und Herzschutz zusätzlich zu ACE-Inhibitoren oder Sartanen gegeben. Große Studien mit mehr als 5600 Patienten zeigten eine signifikante Reduktion des Fortschreitens der CKD. Finerenon löste seltener eine Hyperkaliämie oder antiandrogene Nebenwirkungen als Spironolacton aus. Dennoch müsse man den Kaliumspiegel im Blick behalten und kaliumsparende Diuretika vermeiden. »Neue Indikationen sind bereits in Planung, zum Beispiel Herzinsuffizienz«, verriet Siebenand.
Der periphere selektive κ-Opioidrezeptor-Agonist Difelikefalin (Kapruvia®) ist die erste zugelassene Option in Europa für Dialyse-Patienten mit urämischem Pruritus. Etwa die Hälfte der Patienten ist von der quälenden Symptomatik betroffen. Da der Wirkstoff dialysierbar ist, wird er unmittelbar nach der Dialyse intravenös verabreicht.
Auch Sotorasib (Lumykras®) gehört zu den wichtigsten Sprunginnovationen des Jahres. Das KRAS-Protein sei ein wichtiger Treiber des Tumorzellwachstums und KRAS-Mutationen hätten eine Schlüsselrolle in der Karzinogenese. Sotorasib ist der erste KRAS-Inhibitor. Bislang als Zweitlinientherapie für Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkrebs (NSCLC) mit nachgewiesener G12C-Mutation zugelassen, werde es dank guter Ansprech- und Erfolgsraten nun auch in der Erstlinie und bei anderen Tumorarten, zum Beispiel Darm- und Pankreaskrebs, geprüft.
Zu den wichtigsten Neueinführungen im Jahr 2022 zählte der PZ-Chefredakteur die Kombination aus Nirmatrelvir und Ritonavir, besser bekannt als Covid-19-Mittel Paxlovid™. Nirmatrelvir ist ein maßgeschneiderter Arzneistoff, der gezielt die Virus-Protease 3CL von SARS-CoV-2 hemmt und damit die Virusreplikation ausbremst. Damit konnte Paxlovid Krankenhauseinweisungen wegen Covid-19 und Todesfälle verhindern. Vermutlich könne es auch vor Post-Covid schützen. Wichtig sei es, die Patienten zu motivieren, dass sie die Fünf-Tagestherapie durchhalten, also zweimal täglich drei Tabletten einnehmen. Bei Niereninsuffizienz wird die Dosis reduziert. Die Fachwelt müsse auf Mutationen achten, damit Paxlovid »ein scharfes Schwert bleibt«, so Siebenand.
Als »Zusatzzahl« gab es für die Zuhörer in Meran eine Innovation aus dem Bereich der Advanced Therapy Medicinal Products (ATMP), den Arzneimitteln für neuartige Therapien. Mit Valoctocogen Roxparvovec (Roctavian®) kam eine erste Gentherapie für Patienten mit schwerer Hämophilie A in den Handel. Da weder Hemmkörper gegen Faktor VIII noch gegen den Vektor vorliegen dürfen, komme die Gentherapie nur für 10 bis 20 Prozent der betroffenen Männer infrage. Dann aber sei sie sehr erfolgreich: Laut Studie hatten drei Viertel noch nach zwei Jahren eine ausreichende Faktor-VIII-Aktivität, also eine milde Hämophilie. Daten über sechs Jahre bestätigten diese Ergebnisse