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Psyche

Wenn der Lockdown Kinder krank macht

Die Corona-Pandemie hat das Leben von Kindern und Jugendlichen schwer verändert. Keine Schule, keine Struktur, kaum Freunde treffen und zu oft auch Vernachlässigung bis hin zu Gewalt zu Hause. Psychiater, Psychologen und Lehrer fürchten eine Bugwelle an Spätfolgen.
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Datum 09.02.2021  08:00 Uhr

Depressionen, Ängste, geringer Appetit oder Heißhunger und familiäre Spannungen: Die bereits vorliegenden Studien zu den Auswirkungen der Isolation von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie lassen wenig Gutes ahnen. Der Leiter der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiatrie Professor Dr. Tobias Renner sagt, dass psychische Störungen mit schwerem Verlauf seit dem vergangenen Sommer erheblich zugenommen hätten und mehr Aufmerksamkeit bräuchten. «Aktuell zählen wir bei uns einen enormen Anstieg des Versorgungsbedarfs», sagt Renner. Der Austausch mit Kollegen anderer Einrichtungen habe zum selben Ergebnis geführt – alle Plätze belegt, keine Luft nach oben.

Die schon vor der Pandemie sehr hohe Auslastung in Tübingen sei im letzten Quartal des vergangenen Jahres explodiert, erzählt Renner. Ein Vielfaches an Notfällen und Notaufnahmen habe sich schon im vergangenen Sommer abgezeichnet. «Sonst hatten wir in den Sommerferien immer weniger Fälle. Das war 2020 anders und hat mit der ersten Corona-Welle zu tun.» Die Situation habe sich im Oktober, November und Dezember nochmal zugespitzt, mit noch nie da gewesenem Andrang. Besonders viele junge Menschen kämen mit akuter Magersucht (Anorexia) und Zwangsstörungen, sagt Renner. «Diese Krankheitsbilder sind jetzt deutlich komplexer und schwerer geworden», erklärt Renner. Angst vor der Zukunft und Kontamination verbunden mit Waschzwang, Isolation und wenig Bewegung schlage aufs Gemüt.

Durch die hohe Notfallquote könnten kaum noch Patienten in die stationäre Behandlungen in Tübingen aufgenommen werden. «Wir platzen aus allen Nähten.» Derzeit seien in Tübingen 100 Kinder und Jugendliche auf der Warteliste.

Auswirkungen auf Psyche Minderjähriger deutlicher als gedacht

Laut Robert-Koch-Institut (RKI) sind Kinder und Jugendliche von der Pandemie und den Einschränkungen besonders betroffen. Erste Studien weisen nach Auskunft von Renner darauf hin, dass insbesondere Kinder mit psychischen Störungen und Kinder in schwierigen psychosozialen Situationen unter der Pandemie leiden.

In der im Juli 2020 veröffentlichten Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) spürten 71 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen im Zuge der Pandemie seelische Belastungen. Zwei Drittel der Befragten sahen ihre Lebensqualität als niedrig an – vor der Krise waren es laut UKE nur ein Drittel. Das Risiko für psychische Auffälligkeiten steige von rund 18 Prozent vor Corona auf 31 Prozent während der Krise. «Wir haben mit einer Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens in der Krise gerechnet. Dass sie allerdings so deutlich ausfällt, hat auch uns überrascht», sagte damals Studienleiterin Ulrike Ravens-Sieberer.

Renner befürchtet, dass die zweite Corona-Welle noch viel schlechtere Ergebnisse in Studien zu Tage fördern werde. Der Arzt appellierte an die Politik, Kinder und Jugendliche aber auch die Kliniken nicht aus den Augen zu verlieren. «Niederschwellige Beratung und Versorgung ohne lange Wartezeiten müssen sichergestellt werden, denn was wir erleben ist kein Strohfeuer.» 

Kindern fehlt Übung des sozialen Miteinanders

«Es wird dauerhaft Folgen geben, in wirtschaftlicher Hinsicht durch mangelhafte Ausbildung und auch psychologisch», ist sich auch die Geschäftsführerin des Kinderschutzbundes in Hessen, Olivia Rebensburg, sicher. Neben den Schulen und Kitas fehle das Freizeit- und Sportangebot. Hier hätten viele aber Vertrauenspersonen, das fehle massiv. «Die Belastungssituation in den Familien ist hoch. Erste Befragungen und Meldungen von Psychologen deuten auf Langzeitfolgen hin», sagt Rebensburg.

In Kinder- und Jugendpsychiatrien in Hessen sind die Folgen der Corona-Krise bereits deutlich spürbar. Dort werden unter anderem viele junge Patienten behandelt, die mit Schulängsten, -unlust und Trennungsängsten kämpfen. Zunächst könne für solche Kinder das Homeschooling zwar eine scheinbare Entlastung bedeuten, weil sie für die Schule zurzeit nicht mehr ihr Zuhause verlassen müssten, sagt der Kinderpsychiater und stellvertretende Direktor der Vitos Kinder- und Jugendklinik für psychische Gesundheit Herborn, Dr. Christoph Andreis. Oft sei das aber nur eine «Pseudolösung», weil das eigentliche Problem fortbestehe und nur auf später verschoben werde, wenn wieder Schulbesuch, Zusammenkünfte mit Gleichaltrigen und Klassenkameraden, Praktika oder vielleicht auch Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz oder ähnliche soziale Anforderungen anstünden. «Die soziale Isolation kann sich chronifizieren», sagt Andreis.

Hinzu komme: Die entzerrende Wirkung der Schule auf das häusliche Umfeld falle durch den Lockdown derzeit weg. Dadurch steigen Spannungen und Stress in den Elternhäusern – zumal viele Eltern zu Hause gleichzeitig ihrer Arbeit im Homeoffice nachgehen und womöglich auch kleinere Kinder betreuen müssen. «Es kommt viel häufiger zu Momenten, in denen Konflikte aufbrechen», sagt Andreis. Streits, Impulsdurchbrüche oder sogar häusliche Gewalt nähmen tendenziell zu.

Eltern brauchen mehr Hilfsangebote

«Wir bemerken, dass Leute vermehrt Hilfe suchen, gerade beim Elterntelefon gibt es massive Zuwächse», berichtet Rebensburg. Einige würden sagen, wenn sie nicht die Möglichkeit bekommen zu sprechen, rutsche ihnen irgendwann die Hand aus. «Da staut sich eine Menge auf.» Erste Orientierung bietet der  Kinderschutzbund auf seiner Website. Informationen für Jugendliche und Eltern gibt es auf der Website www.corona-und-du.info.

Wie schwer und dauerhaft die Kinder beeinträchtigt werden, hänge immer auch von der sogenannten Resilienz ab, also von der psychischen Widerstandskraft der Kinder und Jugendlichen. Bei den Beratungsstellen der Kommunen macht man teils unterschiedliche Erfahrungen, zum Beispiel bei den Anfragen für Beratungen. Sicher ist man sich aber, dass die Extremsituation an den Kindern nicht spurlos vorübergehen wird.

Die Jugendamtsleiterin des Kreises Offenbach, Sandra Hansmann sagt zu psychischen Belastungen: «Wir haben noch keine Erhöhung festgestellt. Das wird sich 2021 herauskristallisieren.» Der Sozialdezernent des Kreises, Carsten Müller, ist aber sicher: «Das wird irgendwann Folgen haben.» Für den Fall eines dritten Lockdowns glaubt er: «Die Langzeitfolgen werden dann zum entscheidenden Thema.»

Immer mehr Schüler verweigern Homeschooling

Immer mehr Schüler verweigerten sich dem Unterricht komplett, tauchten ab und seien nicht mehr erreichbar, erklärt der Landesverband Schulpsychologie Baden-Württemberg. Manche brächen gar die Schule ab – und viele Hilfsangebote griffen derzeit nicht. «Wir schieben eine Bugwelle an Beratungen und Testungen vor uns her.» Zwar gebe es telefonische und digitale Beratungen. Doch manches gehe eben nur in Präsenz: etwa interaktive Methoden zur Konfliktlösung oder Hilfe bei Prüfungsangst, oder Testungen bei Rechenschwäche oder Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben.

Ein zentrales Problem für viele Schüler im Fernunterricht ist es nach Expertensicht, sich immer wieder selbstständig aufzuraffen. «Für eine hohe Motivation ist es nämlich wichtig, dass sich Schülerinnen und Schüler sozial eingebunden fühlen», sagt Jörg Wittwer, Professor für Empirische Lehr- und Lern-Forschung an der Universität Freiburg. Diese Eingebundenheit sei wegen der Corona-Einschränkungen stark beeinträchtigt. Damit Lernen im Lockdown dennoch gelingen könne, sei es wichtig, dass Schüler trotz allem eine aktive Rolle übernehmen könnten, zum Beispiel, indem sie Erklärvideos für ihre Mitschüler aufnähmen. Lernmaterialien müssten unmittelbar verständlich sein, sagt Wittwer. Zudem sollte das Lehrpersonal den Schülerinnen und Schülern den Nutzen des Lernstoffs für die eigene Lebenswelt verdeutlichen.

Besonders schwierig dürfte das bei den Jüngsten sein. Eine Grundschullehrerin aus dem Ortenaukreis berichtet, dass ausgerechnet ihre schwächeren Schüler weiter abgehängt würden. Zuhause fehlten oft die Unterstützung, der Platz zum Lernen oder schlicht passende Geräte. «Ich sehe großes Leid in den Familien.» Manche Erstklässler könnten nach ihren wenigen Monaten Präsenzunterricht noch nicht den Stift korrekt halten und wüssten nicht, wo man im Schulheft schreibt und wo nicht. Lesenlernen sei aus der Distanz quasi unmöglich.

Bei älteren Schülern sieht der Kinderschutz-Verein «Initiative Familien» wieder ein anderes Problem: Kinder der höheren Klassenstufen hätten keinen Anspruch auf Notbetreuung. Viele von ihnen seien deshalb seit Wochen stundenlang täglich allein zuhause. «Da passiert vielleicht nichts Schlimmes, aber das ist eine Wahnsinnsüberforderung», sagt Zarah Abendschön-Sawall, Landessprecherin der Initiative, die sich nach eigenen Angaben während der Corona-Pandemie gegründet hat. Die Kinder – 12, 13, 14 Jahre alt – müssten selbst ihren Alltag strukturieren, sich Essen zubereiten, Technikprobleme lösen, damit der Online-Unterricht funktioniere. «Man behandelt diese Kinder, als wären sie Erwachsene.»

Ein Lehrer aus Freiburg, der so oft vor schwarzem Bildschirm unterrichtet, fürchtet Langzeitfolgen. «Dieses Lernen von sozialem Umgang, das hat man jetzt lang nicht gehabt – das Agieren in der Klassengemeinschaft, das persönliche Auseinandersetzen mit Leuten, die einem eher unähnlich sind. Ich könnte mir vorstellen, dass uns das noch jahrelang beschäftigt.»

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