Weniger Rezepte, aber stärkere Wirkstoffe |
Laura Rudolph |
11.03.2025 18:00 Uhr |
In Deutschland hat die Anzahl der Rezepte für Opioide zwischen 2005 und 2020 stetig abgenommen, jedoch wurden gleichzeitig potentere Wirkstoffe ausgewählt. / © Getty Images/Guido Mieth
In den späten 1990er-Jahren begann in den USA die Opioid-Krise, als Ärzte die starken Schmerzmittel massenweise verschrieben. Dies führte zu einem starken Konsumanstieg und bei vielen zu Abhängigkeit. Heute spielt vor allem der Missbrauch synthetischer Opioide wie Fentanyl eine Rolle. In den vergangenen Jahren gab es mehrfach Recherchen, die klären sollten, ob auch in Deutschland eine Opioid-Krise droht.
Nun ist eine Publikation von Forschenden des Leibniz-Instituts für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Bremen erschienen. Sie legt nahe, dass es keine Anzeichen für eine deutsche Opioid-Krise gibt. Die Forschenden analysierten, wie häufig und in welcher Dosis Opioid-haltige Schmerzmittel zwischen 2005 und 2020 verordnet wurden, wie ein Langzeitgebrauch begründet war und ob es Hinweise auf Missbrauch und/oder Abhängigkeit gab.
Ausgewählte Ergebnisse der vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Auftrag gegebenen Untersuchung sind jetzt in einer Vorabpublikation der Märzausgabe des »Bulletin zur Arzneimittelsicherheit« veröffentlicht worden. Demnach nahm die Anzahl der Rezepte insgesamt ab, während die verordnete Opioid-Dosis jedoch teilweise zunahm.
Die zugrunde liegenden Daten stammten aus der »German Pharmacoepidemiological Research Database«, die Abrechnungsdaten von derzeit etwa 25 Millionen Personen enthält, die seit 2004 oder danach bei der AOK Bremen/Bremerhaven, der DAK-Gesundheit, der Techniker Krankenkasse oder der hkk Krankenkasse versichert waren. Diese Daten repräsentieren ungefähr 20 Prozent der Allgemeinbevölkerung.
Insgesamt ist die Anzahl der jährlichen Opioid-Verschreibungen zwischen 2005 und 2020 um 19 Prozent gesunken, von 52,1 auf 42,4 Verordnungen pro 1000 Personen. Der kontinuierliche Rückgang war in allen Altersgruppen zu beobachten mit Ausnahme von Personen ab 80 Jahren. Bei den Über-80-Jährigen stieg die Prävalenz bis 2016 zunächst um 19 Prozent (von 150,2 auf 179,4 Verordnungen pro 1000 Personen) und sank dann bis 2020 auf 173,8 pro Verschreibungen pro 1000 Personen.
Die Rezepte wurden damit weniger, die verordnete Opioid-Dosis, gemessen als orale Morphin-Äquivalente, nahm jedoch teilweise zu. Ein orales Morphin-Äquivalent (OME) ist eine standardisierte Maßeinheit, die verwendet wird, um die schmerzlindernde Potenz verschiedener Opioide zu vergleichen.
Zwischen 2005 und 2016 stieg die Rate der verordneten OME um 51 Prozent an, von 191.987 mg auf 290.733 mg pro 1000 Personenjahre, gefolgt von einem leichten Rückgang bis 2020 auf 275.218 mg pro 1000 Personenjahre. Besonders ausgeprägt war der Anstieg zwischen 2005 und 2016 bei Menschen ab 60 Jahren.
Den höchsten Anteil an den OME hatte dabei über den gesamten Zeitraum hinweg Fentanyl. Bis 2011 stieg der Fentanyl-Anteil an und ging dann leicht zurück. Die Anteile von Oxycodon mit und ohne Naloxon nahmen stetig zu und stabilisierten sich ab 2017 auf einem gleichbleibenden Niveau. Auch für Hydromorphon und Tapentadol, das 2010 zugelassen wurde, nahm die OME über die Jahre zu. Im Gegensatz dazu ging der Wert bei dem schwach wirksamen Opioid Tramadol ab 2007 moderat zurück. Ebenso zeigte sich für Morphin seit 2012 eine abnehmende Tendenz.
Von den 3.740.715 Personen, die im Untersuchungszeitraum zum ersten Mal ein Opioid verschrieben bekommen hatten und mindestens drei Monate lang nachbeobachtet wurden, entwickelten 17,7 Prozent (661.342 Personen) einen Langzeitgebrauch. Von diesen hatten 23,5 Prozent Krebs und/oder wurden palliativ versorgt. 32,8 Prozent hatten zu Beginn des Langzeitgebrauchs eine Indikation, die von einem Krankenhausarzt dokumentiert wurde, weitere 33,0 Prozent hatten nur eine ambulant dokumentierte Indikation – besonders häufig Personen zwischen 20 und 39 Jahren. 8,5 Prozent hatten zu Beginn der Langzeitanwendung eine Operation und 2,2 Prozent fielen in die Kategorie »Sonstige«.
Bei den Langzeitanwendern wurde zusätzlich anhand von ICD-Codes untersucht, ob es Hinweise auf einen Missbrauch oder eine Abhängigkeit gibt. Dabei wurden nur Diagnosen berücksichtigt, die im Krankenhaus gestellt wurden. Insgesamt hatten 2,4 Prozent aller Personen, die Opioide langfristig einnahmen, entsprechende Diagnosen, auch hier war der Anteil der 20- bis 39-Jährigen besonders groß.
Der Bericht liefert auch Daten zum sogenannten Doctor Shopping. Darunter versteht man, wenn ein Patient mehrere Ärzte aufsucht, um sich mehrfach Opioide verordnen zu lassen – ein Zeichen für Abhängigkeit oder Missbrauch. Die Forschenden schlossen Patienten in die entsprechende Analyse ein, die über mindestens ein Jahr ein Opioid anwendeten. Dies waren 304.864 Personen. Davon betrieben 2,1 Prozent (6355 Personen) Doctor Shopping – vor allem die Jüngeren. Der Anteil nahm mit zunehmendem Alter kontinuierlich ab.
So betrug der Anteil der Doctor Shopper unter den Patienten bis 19 Jahre 9,1 Prozent (58 von 640) und bei den 20- bis 39-Jährigen 6,5 Prozent (886 von 13.604). Mehr als der Hälfte dieser Patienten unter 40 Jahren löste die Rezepte zudem in mindestens fünf verschiedenen Apotheken ein. In der Altersgruppe 40 bis 59 Jahre gab es 2,7 Prozent Doctor Shopper (1936 von 70.514), bei Menschen ab 60 Jahren waren es weniger als 2 Prozent und bei Menschen ab 80 Jahren weniger als 1 Prozent.
Insgesamt nahm die Anzahl der Opioid-Verordnungen in Deutschland zwischen 2005 und 2020 ab. Betrachtet man die verordneten oralen Morphin-Äquivalente, gab es zunächst einen Anstieg, auf den jedoch ein leichter Rückgang folgte. Etwa ein Fünftel der Personen, die im Untersuchungszeitraum erstmalig ein Opioid-haltiges Schmerzmittel erhielten, erfüllten mindestens einmal die Kriterien für Langzeitgebrauch. Der häufigste potenzielle Grund waren chronische Schmerzen, die nicht von einem Tumorleiden verursacht waren.
Die Ergebnisse zu Missbrauchs- und Abhängigkeitsdiagnosen sowie zum Doctor Shopping legen nahe, dass insbesondere 20- bis 39-Jährige Opioide nicht immer indikationsgerecht einnehmen, die entsprechenden Anteile jedoch gering sind. »Insgesamt bestätigen und erweitern die Projektergebnisse die Erkenntnisse aus früheren Studien, dass es in Deutschland keine Hinweise auf eine sogenannte Opioid-Krise gibt«, heißt es abschließend in dem Bericht.