Welche Rolle spielt die Resilienz? |
Brigitte M. Gensthaler |
20.09.2023 18:00 Uhr |
Eine Demenzerkrankung betrifft immer mehrere Menschen. / Foto: Adobe Stock/Iakov Filimonov
Alter ist der stärkste unveränderbare Risikofaktor für eine Demenz. Andererseits gibt es modifizierbare Faktoren und auf die sind – zumindest theoretisch – etwa 40 Prozent des Risikos zurückzuführen. Eine Forschergruppe um Professor Dr. Gill Livingston vom University College London hat 2020 zwölf modifizierbare Risikofaktoren publiziert (DOI: 10.1016/S0140-6736(20)30367-6).
»Wir wissen viel über die Risikofaktoren, aber das Wissen ist kaum verbreitet«, berichtete Professor Dr. Alexandra Wuttke kürzlich bei einem Online-Seminar des Projekts »Digitales Demenzregister Bayern« (digiDEM). In einer Umfrage hätten nur 60 Prozent gewusst, dass es viele modifizierbare Risikofaktoren gibt, und nur 62 Prozent kannten schlechtes Hören als bedeutendsten Faktor, sagte die Psychologische Psychotherapeutin, die seit Februar 2023 die Stiftungsprofessur für die Prävention von Demenz und Demenzfolgeerkrankungen am Uniklinikum Würzburg innehat. »Die Aufklärungsmaterialien erreichen nicht die Menschen, die es am nötigsten haben.« Sie plädierte dafür, neben der allgemeinen Aufklärung gezielt vulnerable Gruppen wie Menschen mit niedrigem Schulabschluss anzusprechen.
Hörminderung im mittleren Erwachsenenalter (45 bis 65 Jahre) gilt als stärkster Risikofaktor und ist weltweit (rechnerisch) für etwa 8 Prozent der Demenzerkrankungen verantwortlich. »Das Risiko ist durch ein Hörgerät fast komplett kompensierbar«, so die Forscherin. Im mittleren Alter seien Bluthochdruck, Alkoholkonsum und Übergewicht besonders bedeutend und im höheren Alter Depression und soziale Isolation.
Laut einer aktuellen Analyse sind die meisten Demenzfälle in Deutschland mit Hörminderung (6,3 Prozent), Bluthochdruck (6,1 Prozent), Depression (4,7 Prozent), Adipositas (4,6 Prozent) und Rauchen (4,0 Prozent) assoziiert. »Nach unseren Berechnungen steht mehr als jede dritte Demenzerkrankung in Deutschland mit insgesamt elf potenziell modifizierbaren Risikofaktoren in Zusammenhang«, schreiben die Autoren um Dr. Iris Blotenberg im Deutschen Ärzteblatt (DOI: 10.3238/arztebl.m2023.0100). Und sie nennen zum Vergleich: Schätzungsweise 7 Prozent der Demenzfälle werden mit dem wichtigsten genetischen Risikofaktor, dem ApoE-4-Allel, in Verbindung gebracht.
Psychotherapeutin Wuttke hält Stressreduktion und Resilienzförderung für essenziell in der Prävention und Begleitung von Demenzpatienten. »Stress ist toxisch für Menschen mit Demenz.«
Ältere Menschen und ihre Angehörigen gerieten häufig in einen Teufelskreis. Sie bemerken Gedächtnisprobleme; daraus entwickeln sich negative Gedanken, Wut, Angst und Scham; diese fördern sozialen Rückzug, Passivität und den kräftezehrenden Aufbau einer Fassade; der Abbau von sozialen Kontakten und positiven Aktivitäten verstärkt wiederum den kognitiven Abbau. An- und Zugehörige versuchten zu motivieren und Gedächtnisprobleme zu korrigieren: ein Potenzial für Streit und Konflikt und somit Stress.
»Stressreduktion ist immer Resilienzförderung und Resilienz ist vor allem in der Anfangsphase einer Demenz wichtig«, sagte Wuttke. Um die psychische Widerstandsfähigkeit, trotz Widrigkeiten gesund zu bleiben, zu fördern, sei die soziale Dimension am wichtigsten. Als soziale Resilienzfaktoren nannte Wuttke die wahrgenommene soziale Unterstützung, eine gute Beziehungsqualität sowie Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten und positiven Aktivitäten.
Hobbys, soziale Kontakte und Lebensfreude: essenziell mit und trotz Erkrankung., / Foto: Shutterstock/wavebreakmedia
»Das soziale Netz auszubauen, ist enorm wichtig für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen, aber das ist auch die größte Hürde.« Viele Angehörige würden zu spät Hilfe suchen, weil sie denken: »es geht ja noch,« und das sei fatal.
Für den Alltag empfahl Wuttke drei kleine Übungen der Resilienz-Intervention:
- positive Aktivitäten aufbauen und Hobbys wieder aufnehmen: »Für jede Pflicht im Alltag soll es einen Ausgleich geben«.
- Den Blick für positive Erlebnisse im Alltag schärfen und ein »Positivtagebuch« führen: »Schreiben Sie jeden Tag drei Dinge auf, über die Sie sich gefreut haben und für die Sie dankbar sind«.
- Soziale Unterstützung vorbereiten: »Schreiben Sie auf, wen es im sozialen Umfeld gibt, der Sie unterstützen kann.« Weil dies den meisten Menschen sehr schwerfällt, rät Wuttke: »Fragen Sie sich: Wenn dieser Mensch mich um Hilfe bittet, würde ich dann ablehnen?«
Eine größere Resilienz kann laut Wuttke die Manifestation von Demenz und den kognitiven Abbau hinauszögern. Zudem könne eine gute Begleitung der Patienten und ihrer Angehörigen Krisensituationen entschärfen. Pflegende Angehörige seien besonders vulnerabel. Dabei würden sich viele bei beginnender Demenz ihres Partners gar nicht als pflegende Angehörige identifizieren, da sie nicht körperlich pflegen. Sie leiden aber an chronischem Stress, sorgen sich emotional um den anderen, denken immer mit und haben eine erhöhte Depressionsrate. Man spreche daher auch vom »unsichtbaren zweiten Patienten«.
Eine Hilfe, um individuelle Resilienz- und Belastungsfaktoren bei pflegenden Angehörigen einzuschätzen, bieten zwei Fragebögen zur Angehörigen-Resilienz und -Belastung (FARBE), die vom Zentrum für psychische Gesundheit im Alter, Mainz, entwickelt wurden (Download bei der Stiftung »Zentrum für Qualität in der Pflege«). Wuttke ist überzeugt: »Es gibt ein großes Präventionspotenzial, wenn wir die Angehörigen mitbedenken!«