Was vor dem Therapiestart zu beachten ist |
Brigitte M. Gensthaler |
19.03.2024 09:30 Uhr |
Bei ersten Anzeichen einer kognitiven Störung könnten Anti-Amyloid-Antikörper eingesetzt werden, sofern eine Alzheimer-Pathologie im Gehirn nachweisbar ist. In Europa ist aber noch kein Wirkstoff zugelassen. / Foto: Adobe Stock/Tatyana Gladskih
Der monoklonale Antikörper Lecanemab (Leqembi®) konnte in einer Phase-III-Studie bei Patienten mit früher Alzheimer-Erkrankung die Bildung von β-Amyloid-Plaques und das Fortschreiten der kognitiven Einbußen verlangsamen. Anfang 2023 ließ die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA das Medikament in einem beschleunigten Verfahren vorläufig zu.
Eine Entscheidung der EMA wird im ersten Halbjahr 2024 erwartet. Das Komitee muss den klinischen Nutzen für die kleine Patientengruppe, den hohen Aufwand der regelmäßigen Infusionen und Kontrollen sowie das Risiko für im Einzelfall schwere Nebenwirkungen in Form von ARIA (Amyloid-Related Imaging Abnormalities) abwägen.
Privatdozentin Dr. Katharina Bürger, Leiterin der Gedächtnisambulanz am Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung der LMU München, plädierte für eine sehr sorgfältige Patientenauswahl. »Wir wollen keinesfalls, dass diese Substanz verbrannt wird, wenn Risiken und Vorsichtsmaßnahmen nicht ausreichend beachtet werden.«
Nur für einen geringen Teil der Patienten, nämlich mit leichten kognitiven Störungen oder früher Alzheimer-Demenz, kommt Lecanemab überhaupt infrage. Bürger schätzte deren Zahl auf etwa 20.000 in Deutschland. Aber die Zahl derer, die eine Diagnose wünschen, sei zehnmal so hoch. »Das Zeitfenster für die Therapie ist sehr klein.« Asymptomatische Personen, die sich vor einer Demenz fürchten, seien keine Kandidaten und eine PET- oder Liquoruntersuchung könne nicht auf Wunsch eines Patienten erfolgen.
Sind Menschen mit milden kognitiven Störungen (MCI) identifiziert, muss die Alzheimer-Pathologie nachgewiesen werden. Nach neurologisch-psychiatrischer Untersuchung sowie Labordiagnostik erfolge eine zerebrale Bildgebung mittels MRT (Magnetresonanztomografie) und dann eine Liquor-Untersuchung oder Amyloid-PET (Positronen-Emissions-Tomografie) zum Nachweis von β-Amyloid-Plaques im Gehirn, erklärte Professor Dr. Peter Berlit, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Neurologie in Berlin. »Damit können wir eindeutig sagen, welche Patienten infrage kommen.«
Wann kommt die Alzheimer-Früherkennung mit validen Bluttests? Bislang gebe es nur einen einzigen robusten Biomarker, nämlich das τ-Proteinfragment pTau217, berichtete Professor Dr. Frank Jessen, Leiter der Arbeitsgruppe Klinische Alzheimerforschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE). Dieser Bluttest werde in den nächsten Jahren auf den Markt kommen. »Viele andere Blutmarker eigenen sich für alles Mögliche, aber vermutlich nicht für die Alzheimer-Diagnostik in der Praxis.«
Angesichts von möglichen ARIA wie Ödemen und Mikroblutungen im Gehirn ist eine engmaschige Überwachung der Patienten notwendig. ARIA sind in Gehirn-Scans sichtbar und führen mitunter zu milden Symptomen. Damit diese frühen Veränderungen bemerkt und Therapie- und Kontrolltermine eingehalten werden, müssen Patienten laut Bürger »eine hervorragende Compliance haben und sozial eingebettet sein«.
Sehr sorgfältig abzuwägen beziehungsweise kontraindiziert ist die Lecanemab-Therapie bei Menschen mit erhöhtem Blutungs- oder Schlaganfallrisiko oder unter Antikoagulation, zum Beispiel aufgrund von Vorhofflimmern (VHF). Allerdings haben ältere Menschen ein höheres Risiko für VHF, das wiederum das Risiko eines Schlaganfalls erhöht. Berlit riet, neu auftretendes VHF zu behandeln und Lecanemab abzusetzen. Erleidet ein Lecanemab-Patient einen Schlaganfall, darf er keine Lysetherapie bekommen, da das Blutungsrisiko ansteigt.
Doch wie vermeidet man, dass ein anderer Arzt, der von der Antikörpertherapie nichts weiß, ein Antikoagulans verordnet? Bürger plädierte für einen Patientenpass.
Das ARIA-Risiko scheint bei Trägern des ApoE4-Gens relativ hoch zu sein. Bei homozygoten Personen lag die ARIA-Häufigkeit in Studien bei etwa 40 Prozent, berichtete Jessen. Manche Zentren in den USA würden ApoE4-Träger gar nicht behandeln. Er plädierte dafür, den ApoE4-Status vor Therapiebeginn immer zu bestimmen.
Auch die Kostenfrage sprachen die Experten an. Die aufwendige Diagnostik werde nicht angemessen vergütet, ebenso wenig das gesamte Setting in Praxen und Ambulanzen. Laut Bürger kostet allein die Diagnostik eine vierstellige Summe. Hinzu kommen die Therapie und deren Überwachung, denn die Patienten müssen alle zwei Wochen zur Infusion in die Ambulanz oder Klinik kommen. Pro Quartal ergäben sich vierstellige Behandlungskosten plus das Medikament. In den USA kostet es knapp 30.000 Dollar pro Jahr, umgerechnet etwa 25.000 Euro.
Jessen rechnet damit, dass Lecanemab im Fall einer europäischen Zulassung relativ schnell verfügbar sein wird. »Wir wünschen uns eine kontrollierte, verantwortungsbewusste Einführung. Aber in der Breite wird es auch anders angeboten werden.« Der Patientendruck sei sehr hoch; schon jetzt gebe es Patienten, die eine Behandlung als Selbstzahler einfordern oder in die USA zur Infusion reisen.