Wann wäre eine Covid-19-Impfpflicht verfassungsgemäß? |
Dass die Polizei ungeimpfte Menschen zur Covid-19-Impfung begleiten und damit zwingen könnte, sich impfen zu lassen, hält der Jurist und ehemalige Richter Udo Di Fabio für verfassungswidrig. Andere Sanktionsmöglichkeiten wie etwa ein Bußgeld wären aber denkbar. / Foto: Imago Images/Wolfgang Maria Weber
Um die Coronavirus-Pandemie langfristig in den Griff zu bekommen, wird immer wieder über eine Impfpflicht diskutiert. Ende des vergangenen Jahres befürworteten laut einer Umfrage des ZDF-Politbarometers knapp 70 Prozent der Bevölkerung in Deutschland eine Einführung der Impfpflicht. Rund 30 Prozent waren dagegen. Wenige Monate zuvor, im Juli 2021, waren es noch 64 Prozent, die sich gegen eine solche Impfpflicht ausgesprochen haben. Bei dieser Diskussion steht auch immer wieder die Frage im Raum, ob eine solche Pflicht zur Impfung überhaupt rechtlich und verfassungsrechtlich möglich wäre. Unter welchen Bedingungen eine Impfpflicht tatsächlich zu rechtfertigen ist, erläuterte der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Professor Udo Di Fabio am Dienstag bei einer Online-Veranstaltung von House of Pharma.
Prinzipiell sei eine Impfpflicht schon heute ohne weitere Rechtsänderung möglich, erklärte Di Fabio. In § 20 Absatz 6 des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) heißt es: »Das Bundesministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen oder anderen Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.«
Damit könnte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) bereits per Verordnung eine Impfpflicht anordnen. Davon hat das Ministerium aber noch keinen Gebrauch gemacht. Sollte das BMG diese Möglichkeit auch weiterhin nicht wahrnehmen, könnten aber auch die Regierungen der Bundesländer laut § 20 Absatz 7 IfSG eine Impfpflicht anordnen. Aber auch dies ist bislang nicht geschehen. Di Fabio warnt zudem vor diesem Schritt. Denn mit einer Impfpflicht werde in die körperliche Unversehrtheit nach Artikel 2 Absatz 2 Satz Grundgesetz (GG) eingegriffen. »Dieser Grundrechtseingriff ist nur zu rechtfertigen, wenn es einen sogenannten legitimen Grund dafür gibt.« Dieser Schritt muss sorgfältig abgewogen werden und dies sei demnach eher die Aufgabe des parlamentarischen Gesetzgebers als die eines Ministeriums, findet Di Fabio.
Di Fabio war von 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. / Foto: Imago Images / Reiner Zensen
Doch warum wird mit einer Impfpflicht in die körperliche Unversehrtheit eingegriffen? Laut Di Fabio bedeutet diese Unversehrtheit, dass sich der Körper einer Person in einem Zustand befindet, den diese Person auch haben will. »Wenn der Staat diesen Körper verändern will und sei es um ihn zu verbessern, erfordert das einen Grundrechtseingriff.« Die Impfung verändere den Körper aufgrund des Piks, des Einstichs am Oberarm sowie durch den Impfstoff, der den körperlichen Zustand verbessern, beziehungsweise gegen Coronaviren immunisieren soll. Fraglich ist damit vor allem, wie schwer dieser Grundrechtseingriff ist. Vor allem die Frage nach möglichen Impfreaktionen oder Nebenwirkungen sollten hier beleuchtet werden. Da die Impfungen weltweit aber bereits millionenfach erfolgt sind und genau beobachtet werden, könnten diese bereits gut abgeschätzt und gerechtfertigt werden, sagte Di Fabio.
Bei der Frage nach der körperlichen Unversehrtheit geht es aber nicht nur um körperliche, sondern auch um seelische Reaktionen, betonte der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht. Die Mehrheit der Menschen gehe derzeit bezüglich der Covid-19-Impfungen zum Arzt, lässt sich impfen und denkt nicht mehr groß darüber nach. »Andere entwickeln aber eine Abneigung oder Furcht und lehnen die Impfung ab. Für diese Menschen ist eine Impfpflicht ein schwererer Grundrechtseingriff als bei Personen, die die Impfung nicht ablehnen.« Weil bei Grundrechtsabwägungen nicht nur objektive Beurteilungen eine Rolle spielen, sei die staatliche Anordnung der Impfung deshalb ein intensiver Grundrechtseingriff, schlussfolgert Di Fabio.
Aus diesen Gründen ist nach Ansicht des Juristen eine Impfpflicht nur verfassungsgemäß, wenn es einen guten, also einen legitimen Grund dafür gibt: Zum einen sollen Individuen vor schweren Covid-19-Krankheitsverläufen oder dem Tod geschützt werden. Und zum anderen soll hierdurch eine Herdenimmunität der Bevölkerung erreicht werden, sodass das Virus keine neuen Varianten mehr bilden oder sogar im besten Fall ausgerottet werden kann. Letzteres sei mit dem Coronavirus vermutlich aber nicht möglich, so Di Fabio.
Hierfür muss aber klar sein, dass die Impfung das beste Mittel ist, um diese Ziele zu erreichen. Zwar sind die hierzulande zugelassenen Impfstoffe wirksam, allerdings geht die Schutzwirkung einige Monate nach der Impfung zurück. Dass es deshalb Auffrischungsimpfungen braucht, um das legitime Ziel – Herdenimmunität – zu erreichen, erschwert die Beurteilung ob eine Impfpflicht das richtige und vor allem verfassungsgemäße Mittel ist.
Wichtig ist es auch, die aktuelle Situation der Pandemie einzuschätzen. Diese Einschätzung kann sich im Verlauf der Lage immer wieder ändern. Eine allgemeine Impfpflicht wäre nur verhältnismäßig, wenn sie zum einen viele Menschen vor Erkrankung oder dem Tod schützen könnte, so Di Fabio. Etwa bei einer drohenden Überlastung des Gesundheitssystems kann die Impfpflicht als geeignetes Mittel betrachtet werden, wenn sie hierfür eine tatsächliche Entlastung bieten kann. Wenn es nun zudem immer mehr Therapiemöglichkeiten gibt, die eine Covid-19-Erkrankung wirksam behandeln und damit auch einer Überlastung des Gesundheitssystems vorbeugen können – Stichwort Molnupiravir und Paxlovid™ – würde das auch die Einschätzung über die Rechtmäßigkeit einer Impfpflicht beeinflussen.
Elementar sei daher, dass eine Impfpflicht nicht nur ein legitimes Ziel verfolgt, sondern auch erforderlich ist. Das bedeutet, dass kein milderes Mittel in gleicher Weise geeignet ist, den angestrebten Zweck zu erreichen, schreibt dazu auch der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags in einer Ausarbeitung vom 22. Dezember 2021 zu den verfassungsrechtlichen Aspekten einer Covid-19-Impfpflicht. Auch bezüglich neuer Virusvarianten müsste eine Impfpflicht jeweils genau abgewogen werden. Denn wenn eine künftige Variante nicht mehr so gefährlich wäre, sei auch eine Impfpflicht nicht mehr gerechtfertigt, betonte Di Fabio.
Und: Eine Impfpflicht ist nur gerechtfertigt, wenn die Impfquote der Bevölkerung auf freiwilliger Basis nicht ausreichend hoch ist, um die angestrebten Ziele wie etwa Herdenimmunität zu erreichen, heißt es zudem in der Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes. Laut Di Fabio muss zudem geklärt werden, ob angesichts derzeitiger Freiheitseingriffe der Gesellschaft, wie eingeschränkte Schulbetriebe oder geschlossene Gastronomie und damit einhergehende betroffene Berufsgruppen, die Impfpflicht nicht ein geringeres Übel sei, um den Freiheitseingriff in der Gesellschaft wieder zurückzuschrauben.
Insgesamt könnte aus seiner Sicht eine Impfpflicht gerechtfertigt werden, wenn die genannten Parameter der Bedrohungslage zutreffend sind, also eine Überlastung der Gesundheitsversorgung und eine steigende Zahl von Krankheits- und Todesfällen aufgrund der nicht geimpften Bevölkerung droht.
Fraglich ist zudem, wie eine Impfpflicht durchzusetzen wäre. Manche Juristen würden hier indirekte Sanktionen vorschlagen, allerdings gebe es solche bereits seit geraumer Zeit, so Di Fabio. Durch die derzeit geltenden Regelungen, dass nur geimpfte oder genesene Personen Zutritt zu bestimmten Veranstaltungen oder öffentlichen Räumen haben, verhalte sich der Gesetzgeber so, als gäbe es bereits eine Impfpflicht, sagte Di Fabio. Diese Situation sei aber verfassungsrechtlich schwierig, denn hier fehle es an Rechtsklarheit. Konsequenter wäre es eine Impfpflicht direkt gesetzlich zu regeln. Damit müsste der Gesetzgeber sich aber auch über Sanktionen Gedanken machen. Di Fabio erklärte, dass eine Impfpflicht aber kaum mit einem Verwaltungszwang verbunden werden könnte. Personen etwa zu zwingen beim Gesundheitsamt vorzusprechen und den Impfstatus vorzulegen, und bei Nicht-Erscheinen die Polizei zu ermächtigen, eine ungeimpfte Person zur Impfung zu bringen, sei in seinen Augen verfassungswidrig.
Allerdings könnte er sich als Sanktionsmöglichkeit ein Bußgeld vorstellen, sollte die Impfpflicht nicht eingehalten werden. Auch hier müsste sich der Gesetzgeber aber Gedanken machen, was bei Nicht-Bezahlen des Bußgelds geschieht, ob eine Ersatzfreiheitsstrafe angebracht wäre oder ob ein höheres Bußgeld angesetzt wird. Aber auch in dieser Steigerung der Zwangswirkung äußerte Di Fabio verfassungsrechtliche Zweifel.
Sollte eine Impfpflicht notwendig werden, erwartet Di Fabio, dass die Bundesregierung einen entsprechenden Vorschlag in den Bundestag zur gesetzlichen Beratung und Entscheidung einbringt. Allerdings sieht er diese Frage als weiteren Baustein der Pandemiebekämpfung. In seinen Augen sei die Frage nach einer allgemeinen Impfpflicht daher keine Gewissensfrage, bei der die Abgeordneten nur nach ihrem Gewissen und nicht nach Fraktionszugehörigkeit entscheiden könnten. Sollte es zu einer Impfpflicht kommen, geht Di Fabio von einer allgemeinen Impfpflicht für Erwachsene aus, wenn nicht sogar einer Impfpflicht nur für Über-50-Jährige nach italienischem Vorbild. Denn diese Bevölkerungsgruppe habe im Vergleich zu jüngeren Gruppen ein größeres Risiko, an einem schweren Covid-19-Krankheitsverlauf zu leiden oder sogar zu sterben. Damit sei der Grundrechtseingriff der staatlich angeordneten Impfung bei den Älteren besser gerechtfertigt.
In der Geschichte Deutschlands gab es bereits vor vielen Jahren Impfpflichten. 1874 etwa führte das Deutsche Kaiserreich eine Pocken-Impfpflicht aufgrund der damaligen grassierenden Pocken-Epidemie ein. Auch vor 150 Jahren gab es bereits Proteste mit Narrativen, die den heutigen Verschwörungstheorien stark ähnelten, weiß Di Fabio. Die Impfpflicht wurde später von der Bundesrepublik Deutschland und der DDR rechtlich übernommen. Allerdings konnte die Pocken-Impfpflicht im Jahr 1983 gesetzlich aufgehoben werden, denn die Weltgesundheitsorganisation hatte die Krankheit wenige Jahre zuvor für weltweit ausgerottet erklärt. Eine weitere Impfpflicht wurde erst vergangenes Jahr geregelt. Die Masern-Impfpflicht ist für Personen und vor allem Kinder, die etwa in einer Gemeinschaftseinrichtung wie einer Kita betreut werden, seit dem 1. März 2020 in Kraft.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.