Wann kommen die nasalen Impfstoffe? |
Theo Dingermann |
04.08.2022 18:00 Uhr |
Nasale Impfstoffe könnten die zweite Generation der Coronaimpfstoffe bilden. Vier Kandidaten befinden sich inzwischen in Phase III der klinischen Entwicklung. / Foto: Adobe Stock/SkyLine
In einem redaktionellen Beitrag in »Science Immunology« fordern der bekannte US-amerikanische Genetiker und Kardiologe, Professor Dr. Eric Topol, vom Scripps Translational Science Institute in La Jolla, und Professorin Dr. Akiko Iwasaki von der Yale School of Medicine, die Entwicklung nasal zu applizierender Impfstoffe gegen Covid-19 mit Nachdruck zu fördern. Sie verweisen auf die beispiellosen Erfolge der initialen Covid-19-Impfstoffentwicklung, die zu einem erheblichen Teil durch staatliche Investitionen in der Größenordnung von 10 Milliarden US-Dollar in der »Operation Warp Speed« im März 2020 ermöglicht wurden. Man bräuchte jetzt dringend eine ähnliche Initiative für nasale Impfstoffe, so die Autoren.
Damals verlief die Virusevolution wegen der generellen immunologischen Naivität der Weltbevölkerung gegenüber SARS-CoV-2 noch langsam. Nachdem jedoch immer mehr Menschen geimpft waren oder sich mit dem Virus infiziert hatten, änderte sich die Situation grundlegend. Seither wechseln sich Epidemiewellen, die von neuen Virusvarianten getrieben werden, einander ab. Die dominanten Varianten akkumulieren Mutationen, die helfen, einer etablierten Immunität zu entkommen. Dieser Selektionsmechanismus gipfelt derzeit in den Omikron-Varianten BA.4/BA.5.
Durch diese Entwicklung haben Impfungen und Auffrischungsimpfungen deutlich an Effektivität verloren, Infektionen und Übertragungen zu verhindern. Zwar reicht die durch Impfung oder einen Viruskontakt etablierte Immunität immer noch aus, um schwere Krankheitsverläufe einigermaßen gut zu verhindern. Allerdings kann man mit einer verantwortungsvollen Entwarnung erst dann rechnen, wenn es gelingt, durch innovative Impfstrategien die Übertragungsketten zu blockieren und die häufigen Durchbruchsinfektionen zu verhindern, auch um das latente Risiko zu reduzieren, als Folge einer Infektion an Long Covid zu erkranken.
Mittlerweile ist gut etabliert und akzeptiert, dass ein Schutz vor einer Infektion durch eine systemische Immunisierung nachhaltig nicht zu erreichen ist. Als Alternative wird seit Langem ein mukosales Immunisierungsregime als Ergänzung zur systemischen Immunisierung diskutiert. Allerdings lassen konkrete Ergebnisse immer noch auf sich warten.
Natürliche Infektionen ebenso wie nasal zu applizierende Impfstoffe stimulieren immunologische Reaktionen im Schleimhaut-assoziierten lymphatischen Gewebe (Mucosa Associated Lymphoid Tissue, MALT). Als Konsequenz erkennen spezielle Immunzellen dieses lokalen Abwehrsystems in den Schleimhäuten Erreger und verhindern deren Ausbreitung.
In einer aktuellen Publikation, die ebenfalls in »Science Immunology« erschien, zeigen Dr. Jinyi Tang und Kollegen vom Carter Immunology Center der University of Virginia in Charlottesville, USA, wie deutlich sich systemische und mukosale Impfstoffe voneinander unterscheiden.
Die Forschenden ermittelten die Spike-Protein-spezifischen Antikörpertiter sowie die B- und T-Zell-Immunität sowohl in der bronchoalveolären Lavageflüssigkeit (BAL) als auch im Blut von 19 geimpften Personen, von zehn Patienten, die von einem schweren Covid-19-Verlauf genesen waren, und von fünf ungeimpften Probanden. Das Durchschnittsalter der Teilnehmenden lag bei 70 Jahren und war in allen drei Gruppen ähnlich.
Geimpfte Personen wiesen im Vergleich zu den von Covid-19 Genesenen signifikant niedrigere Werte an neutralisierenden Antikörpern gegen den SARS-CoV-2-Wildtypstamm (D614G), gegen die Delta-Variante und gegen die Omikron-Variante BA.1.1 in der BAL auf, obwohl bei diesen Personen ein robuster Spike-spezifischer Antikörpertiter im Blut nachweisbar war. Darüber hinaus hatten die geimpften Probanden wesentlich weniger Spike-spezifische CD4+-T-Gedächtniszellen, CD8+-T-Gedächtniszellen und sowie B-Gedächtniszellen, die gegen die Rezeptorbindestelle des Spike-Proteins (S-Protein) gerichtet waren, in der BAL im Vergleich zu den genesenen Patienten.
In ergänzenden Studien an Mäusen konnten die Forschenden dann zeigen, dass eine systemische Impfung mit zwei Dosen eines mRNA-Impfstoffs allein nur eine schwache neutralisierende Antikörperreaktion auf den Schleimhäuten der Atemwege induziert. Dieser per se schon schwache Effekt war für die Omikron-Variante BA.1.1 noch am geringsten ausgeprägt.
Verabreichten die Forschenden dann den Mäusen eine Boosterimpfung entweder mit einem intramuskulär applizierten mRNA-Impfstoff, mit einem adjuvantieren intranasal applizierten Protein-Impfstoff oder mit einem intranasal applizierten adenoviralen Vektorimpfstoff, in den das S-Protein von SARS-CoV-2 einkloniert war (AD5-S), zeigten sich folgende Effekte:
Diese Studie ist eine weitere Stütze der Hypothese, dass die aktuellen Covid-19-Impfstoffe durch die Rekrutierung zirkulierender B- und T-Zell-Antworten während einer Reinfektion zwar hochwirksam vor schweren Krankheitsverläufen schützen, dass sie aber nur einen begrenzten Schutz gegen eine Durchbruchinfektion bieten. Dies gilt in besonderem Maße für die derzeit kursierenden Omikron-Sublinien. Daher scheint es nur durch eine mukosale Auffrischungsimpfung möglich zu sein, eine robuste sterilisierende Immunität im Respirationstrakt gegen SARS-CoV-2 aufzubauen, obwohl noch unklar ist, wie lang dieser Schutz anhält.
Da dies keine neuen Erkenntnisse sind, kann man fragen, warum es bisher noch keine Impfstoffe dieses Typs gibt. Die naheliegende Antwort lautet, dass es nicht einfach ist, einen nasal zu applizierenden Impfstoff zu entwickeln.
Aktuell gibt es in Europa und den USA nur einen Impfstoff, der nasal appliziert wird. Dabei handelt es sich um Fluenz® Tetra, der zum Schutz vor Influenza bei Kindern zwischen zwei und unter 18 Jahren angewendet wird. Fluenz Tetra enthält lebend-attenuierte Influenza-A- und Influenza-B-Virusstämme gemäß den amtlichen Empfehlungen für die jährliche Grippesaison. Der Impfstoff wirkt vor allem bei Kindern und Jugendlichen, und hat Studien zufolge eine geringere Wirksamkeit bei Erwachsenen. Ein Problem ist dabei die vorbestehende Immunität gegen Grippeviren: Bei Personen, die schon Grippeantikörper entwickelt haben, wird der Impfstoff nach der nasalen Applikation inaktiviert (»Vaccines« 2020).
Dies zeigt, dass es offensichtlich nicht einfach ist, das an sich plausible Konzept einer mukosalen Immunisierung umzusetzen. Unterstrichen wird dies auch dadurch, dass das biopharmazeutische US-Unternehmen Altimmune, das sich früh bei der Entwicklung nasaler Covid-19-Impfstoffe engagierte, am 29. Juni 2021 bekannt gab, die Impfstoffentwicklung einzustellen. Grund waren die enttäuschend Immunogenitätsdaten einer klinischen Phase-I-Studie. Es ließen sich zwar Antikörper nachweisen, die das SARS-CoV-2-S-Protein binden und das Virus bei einer Untergruppe von Probanden neutralisieren. Allerdings waren das Ausmaß der Reaktion und der Prozentsatz der Probanden, die auf den Impfstoff »AdCOVID« reagierten, wesentlich geringer als bei anderen Impfstoffen, die damals bereits für den Notfalleinsatz zugelassen waren.
Zum damaligen Zeitpunkt befanden sich sechs nasal zu applizierende Impfstoffe in der klinischen Entwicklung. Aktuell wird weltweit an mehr als einem Dutzend intranasal verabreichten Covid-19-Impfstoffen gearbeitet, wie ein Bericht des Nachrichtenportals »The Scientist« ausweist. Diese Impfstoffe reichen von adenoviralen Vektoren bis hin zu abgeschwächten SARS-CoV-2-Lebendimpfstoffen.
Den Angaben zufolge ist einer der dort gelisteten Impfstoffe, die nasal zu applizierende Version des russischen Sputnik-V-Impfstoffs des Gamaleya National Centers of Epidemiology and Microbiology, von den russischen Behörden bereits zugelassen. Vier dieser Impfstoffkandidaten werden derzeit in randomisierten, placebokontrollierten Phase-III-Studien getestet: Zwei davon basieren auf Vektoren – einer auf einem adenoviralen Vektor (BBV154 von Bharat Biotech) und einer auf einem Influenzavirus-Vektor (DelNS1-2019-nCoV-RBD-OPT1 von Beijing Wantal Biological), in die das S-Protein oder die Rezeptorbindedomäne von SARS-CoV-2 einkloniert wurden. Ein Impfstoffkandidat (Razi Cov Pars vom Razi Vaccine and Serum Research Institute) enthält ein rekombinantes S-Protein und der vierte Impfstoffkandidat (CoviLiv von Codagenix) enthält ein lebendes, abgeschwächtes Virus.
Der Impfstoff der Firma Astra-Zeneca (ChADOx1/AZD1222), der sich derzeit erst in Phase I der klinischen Prüfung befindet, wurde an Makaken und Hamstern untersucht und löste eine robuste Schleimhautreaktion auf die D614G-Variante aus, wobei die intranasale Verabreichung eine bessere humorale Reaktion hervorrief als die intramuskuläre.
Forscher, die nasale Impfstoffe entwickeln, betonten immer wieder die Schwierigkeiten, mit denen sie konfrontiert werden. »Ein intranasaler Impfstoff hat einen ganz anderen Entwicklungsweg – normalerweise ist er schwieriger«, bestätigt auch Professor Dr. Florian Krammer von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York gegenüber »The Scientist«.
Ein Grund für die relativen Schwierigkeiten bei der Entwicklung dieser Impfstoffe ist das Fehlen standardisierter Tests für die Schleimhautimmunität. Obwohl auch nasale Impfstoffe die Bildung von Serum-Antikörpern induzieren, sind diese Titer jedoch kein Maß für die potenzielle Schutzwirkung der Impfstoffe. »Es könnte sein, dass die Titer niedriger sind, obwohl der Impfstoff besser wirkt«, so Krammer.
Somit ist es dem Experten zufolge auch unwahrscheinlich, dass Serum-Antikörpertiter von den Zulassungsbehörden als ein relevanter Surrogatmarker akzeptiert werden, wie dies bei systemischen Coronaimpfstoffen derzeit der Fall ist. Krammer fügt hinzu, dass »in der Regel nicht viel Geld für Studien zur Verfügung steht«, die Aufschluss darüber geben könnten, wie gut nasale Impfstoffe wirken und welche Immunreaktionen am stärksten mit einem Schutz vor Infektion korrelieren, wichtige Informationen, die die Entwicklungskosten deutlich senken könnten.
Hier setzt der Aufruf der beiden Autoren Topol und Iwasaki an. Denn da es dem Pandemievirus immer besser gelingt, sich einer Immunantwort zu entziehen, müssen dringend die Anstrengungen verstärkt werden, eine bevölkerungsweite Immunität der Atemwegsschleimhäute zu erreichen.
Gelingt es, mithilfe lokal zu applizierender Impfstoffe die Übertragungskette auf individueller und auf Bevölkerungsebene zu unterbrechen, werden die Chancen deutlich steigen, das Virus einzudämmen und damit auch die Zahl der Erkrankungen, inklusive Long Covid, und der Todesfälle zu verringern. Die Aussicht, dies mit nasalen Impfstoffen zu erreichen, sind nach Ansicht der beiden Autoren groß. Allerdings wird ein solchen Ziel in der gebotenen Eile nur dann möglich, wenn entsprechende Finanzmittel bereitgestellt, Prioritäten gesetzt und alle regulatorischen Hürden minimiert werden. Man habe viel zu lange gewartet, so Topol und Iwasaki, um offensichtlich notwendige Schritte zu ergreifen.
Aktuell gibt es in Deutschland einen ersten kleinen Schritt: Die Bundesregierung fördert erstmals die Entwicklung eines nasalen Coronaimpfstoffs. Das Projekt der Universitätsklinik München namens Zell-Trans werde mit knapp 1,7 Millionen Euro unterstützt, sagte Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger der »Augsburger Allgemeinen« vom 4. August.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.