Viele Krebsmedikamente werden zu hoch und zu lange dosiert |
Theo Dingermann |
14.03.2024 18:00 Uhr |
Auch die Zulassungsbehörden beginnen, sich dieses Problems anzunehmen. Die Herausforderung besteht darin, die Therapiedauer und die Dosierungsschemata neu zu bewerten, nicht nur hinsichtlich der Wirksamkeit der Medikamente, sondern auch mit dem Ziel, die Sicherheit und Verträglichkeit zu maximieren.
Dies begrüßt der Onkologe Professor Dr. Ian Tannock, emeritierter Professor am Princess Margaret Cancer Centre und an der Universität von Toronto. Er gehört ebenso wie Ratain der »Optimal Cancer Care Alliance« an, deren Mitglieder sich ehrenamtlich für die Förderung von Dosisfindungsstudien einsetzen. Tannock fordert ein schärferes Durchgreifen der Behörden beim Design klinischer Dosisfindungsstudien. »Solange [die Firmen] nicht dazu gezwungen werden, ist es unwahrscheinlich, dass die Pharmaunternehmen niedrigere Dosierungen empfehlen«, sagt er gegenüber »Nature«.
Man müsse wegkommen von dem Prinzip einer maximal verträglichen Dosis und konsequenter nach der minimal wirksamen Dosis suchen, sagt der Pharmazeut Dr. Roelof van Leeuwen vom Erasmus Medical Center in Utrecht in den Niederlanden. In den vergangenen 50 Jahren habe man sich zu selektiv auf Effizienz konzentriert, sicherlich auch, weil das so erwartet wurde. »Aber jetzt ist es an der Zeit, das zu ändern«, sagt er und ergänzt: »Mehr ist nicht immer besser.«
Einige Experten drängen mittlerweile auf Deeskalationsstudien nach Erteilung der Zulassung, um die Wirksamkeit niedrigerer Dosierungen und anderer alternativer Therapieschemata zu testen. Das ist relativ neu. Aber diese Entwicklung wird angesichts der gewaltigen Kosten und der Belastung der Patienten durch die Therapien an Bedeutung gewinnen. Einem Bericht des Marktforschungsunternehmens IQVIA zufolge stiegen die weltweiten Ausgaben in der Onkologie im Jahr 2021 auf 185 Milliarden US-Dollar (170 Milliarden Euro) und werden bis 2026 voraussichtlich mehr als 300 Milliarden US-Dollar (276 Milliarden Euro) erreichen.
Andererseits gibt es auch Widerstände. Denn offensichtlich liegt ein solches Vorgehen nicht im Interesse der Arzneimittelhersteller. Und in Ländern mit einem privaten Gesundheitssystemen, wie den Vereinigten Staaten, werden Ärzte und Kliniken häufig auf Basis ihres Verschreibungsvolumens bezahlt.
Besonders relevant sind Einsparbemühungen für ärmere Länder. Erstaunliche Resultate publizierten der indische Onkologe Professor Dr. Kumar Prabhash vom Tata Memorial Hospital in Mumbai und seine Kollegen. Sie zeigten, dass sich das einjährige Überleben von Patienten mit fortgeschrittenem Kopf- und Halskrebs nach Einsatz einer extrem niedrigen Dosis des PD-1-Inhibitors Nivolumab (Opdivo®) verdoppeln ließ.
Prabhash und Mitarbeiter verwendeten nur 6 Prozent der üblichen Dosis in Kombination mit der Standardbehandlung für diese Krankheit. Allerdings wurde die Studie auch kritisiert, weil die niedrige und die volle Dosis aus Kostengründen nicht direkt miteinander verglichen wurden. Dem gegenüber steht die Tatsache, dass 30 Prozent der Patienten, für die die Therapie indiziert ist, die modifizierte Behandlung jetzt tatsächlich auch bekommen, wohingegen sich zuvor nur 3 Prozent der Patienten das Medikament leisten konnten.