Update zur Immunologie von Long Covid |
Im Unterschied zur akuten Krankheit Covid-19, bei der ältere Männer für einen schweren Verlauf am meisten gefährdet sind, haben bei Long Covid Frauen im mittleren Alter relativ gesehen das höchste Risiko. / Foto: Getty Images/Westend61
Als Post-Covid-Syndrom, häufig auch Long Covid genannt, gelten gesundheitliche Beschwerden, die auch mindestens drei Monate nach der Akutinfektion mit SARS-CoV-2 fortbestehen oder danach neu auftreten und anderweitig nicht erklärbar sind. Dies können diverse gesundheitliche Probleme sein. Typisch sind etwa Fatigue, Kurzatmigkeit, Muskelschmerzen, Konzentrationsschwäche und Schlafstörungen.
So unterschiedlich wie die möglichen Symptome sind auch die Vorgeschichten der Long-Covid-Patienten: »Prinzipiell kann jeder, der sich mit dem Coronavirus infiziert hatte, Long Covid entwickeln«, betonte Dr. Rachael Evans von der University of Leicester in Großbritannien kürzlich bei einer vom Ärzte- und Ärztinnenverband Long Covid in Jena ausgerichteten Fachkonferenz. Relativ gesehen, gibt es aber durchaus Personengruppen, die häufiger betroffen sind als andere. Laut Evans sind das etwa Frauen im mittleren Alter – während dagegen für einen schweren Verlauf der akuten Coronainfektion eher Männer und ältere Menschen anfällig seien. Gemeinsame Risikofaktoren sowohl für einen schweren Akutverlauf als auch für Long Covid seien etwa Fettleibigkeit und Vorerkrankungen wie Diabetes.
Dreifach geimpfte Personen entwickelten laut Evans im Fall einer Infektion seltener Long Covid als Ungeimpfte. Von der SARS-CoV-2-Variante hänge das Risiko dagegen zumindest bei Geimpften nicht ab. Eine Infektion nach Möglichkeit zu vermeiden, sei nach wie vor der beste Schutz auch vor Long Covid, denn ersten Daten zufolge steige das Risiko dafür mit jeder Infektion.
Dies sind äußere Merkmale und sie sind entsprechend ungenau. Theorien zur Pathophysiologie lassen sich daraus nicht ableiten. Hierfür braucht es immunologische Kenngrößen. Sie sind das Forschungsgebiet von Professor Dr. Akiko Iwasaki von der Yale University in New Haven, USA, die ebenfalls bei der Konferenz sprach.
Iwasaki erinnerte zunächst daran, dass SARS-CoV-2 nicht das einzige Virus ist, bei dem ein postakutes Infektionssyndrom (PAIS) auftreten kann. Solche Phänomene seien unter anderem auch vom Ebola-, Dengue-, Polio, SARS- und Chikungunyavirus bekannt und vermutlich auch nicht auf virale Erreger beschränkt. »Long Covid hat auf alle diese Syndrome ein Schlaglicht geworfen«, sagte die Immunbiologin, die zusammen mit Kollegen um Jan Choutka von der Universität Prag im Mai dieses Jahres eine Übersicht über verschiedene PAIS im Fachjournal »Nature Medicine« veröffentlicht hatte.
Derzeit würden vier Hypothesen zur Pathophysiologie von Long Covid diskutiert und für alle gebe es auch Belege aus Studien, informierte Iwasaki. Am meisten sei zu der Theorie publiziert worden, dass ein nach der Infektion im Körper zurückbleibendes Reservoir von SARS-CoV-2 beziehungsweise sogenannte Pathogen-assoziierte molekulare Muster (PAMP) des Coronavirus Long Covid auslösen könnten.
Diese Theorie lautet so: Bei manchen Menschen schafft es das Immunsystem nicht, SARS-CoV-2 nach einer Infektion vollständig zu eliminieren. Der Erreger wird zwar so stark zurückgedrängt, dass er mit den üblichen Testmethoden nicht mehr nachweisbar ist, überdauert aber in toto oder auch in Form von nicht infektiösen Überbleibseln in bestimmten Körperzellen. »Am besten dokumentiert ist das für Darm-Epithelzellen«, sagte Iwasaki. Die noch vorhandenen Viren beziehungsweise PAMP sorgen dann für eine dauerhafte, unterschwellige Aktivierung des Immunsystems, was letztlich die Long-Covid-Beschwerden verursacht.
Ebenfalls gut belegt sei Theorie Nr. 2, wonach zumindest bei manchen Patienten eine Autoimmunreaktion hinter Long Covid steckt. Die Autoren einer 2022 im Fachjournal »Cell« erschienenen Arbeit hätten nicht nur dafür experimentelle Belege gefunden, sondern auch für Theorie Nr. 3, wonach eine SARS-CoV-2-Infektion latente Viren wie das Epstein-Barr- oder auch Cytomegalievirus reaktiviert, was dann Long Covid nach sich ziehen kann (DOI: 10.1016/j.cell.2022.01.014).
Die vierte Theorie schließlich stellte Iwasakis eigene Arbeitsgruppe ebenfalls 2022 in »Cell« auf (DOI: 10.1016/j.cell.2022.06.008). Sie besagt, dass bereits eine leicht verlaufende SARS-CoV-2-Infektion die vermehrte Produktion des Zytokins CCL11 auslösen kann, was wiederum eine neuronale Dysfunktion und einen Angriff auf die Nerven-Schutzschicht Myelin triggern kann.
Zwar lässt sich bei Long-Covid-Patienten ein bestimmter immunologischer Phänotyp erkennen, die Diagnose des Syndroms kann aber mit nahezu 100-prozentiger Sicherheit anhand der Symptome gestellt werden. / Foto: Getty Images/busracavus
Zuletzt präsentierte Iwasaki Ergebnisse der MY-Long-Covid-Studie, die noch nicht in einem Fachjournal publiziert wurden. Demnach liegt bei Long-Covid-Patienten häufig ein bestimmter Immunphänotyp vor, der unter anderem durch erhöhte Level an erschöpften T-Zellen, IL-4/IL-6-positiven T-Zellen und aktivierten B-Zellen gekennzeichnet ist. Des Weiteren bilden Long-Covid-Patienten mehr Anti-Spike-Antikörper als Personen, die nicht an Long Covid leiden, diese Antikörper sind aber nicht funktionsfähig. Zudem ist ein niedriger Cortisolspiegel sowohl mit Long Covid als auch mit einem schweren Akutverlauf der Erkrankung assoziiert. »Dies war in unserer Studie der Faktor mit dem stärksten prädiktiven Wert«, so Iwasaki.
Auf Antikörper, die sich gegen körpereigene Strukturen richten (Autoantikörper), als möglichen Verursacher von Long Covid ging Privatdozentin Dr. Bettina Hohberger von der Augenklinik des Universitätsklinikums Erlangen genauer ein. »Autoantikörper an sich sind nicht immer schädlich, sie brauchen eine spezielle Funktion im Körper, um schädlich wirken zu können«, informierte sie. Hohberger konzentriert sich mit ihrem Team daher auf funktionelle Autoantikörper. Schon seit Längerem arbeiten die Erlanger Forschenden an funktionellen Autoantikörpern, die an G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR) binden, Blutgefäße angreifen und Durchblutungsstörungen verursachen, die sich an den Blutgefäßen der Netzhaut ablesen lassen.
Das Team konnte nachweisen, dass zumindest eine Gruppe von Patienten mit Post-Covid-Syndrom diese speziellen Autoantikörper aufweist. Auch Monate nach der Coronainfektion war bei ihnen die Mikrozirkulation in der Retina gestört. Abgefangen werden können die schädlichen Antikörper mit einer kurzen synthetischen DNA-Sequenz (Aptamer) mit der Bezeichnung BC 007. Diese Substanz war bei einzelnen Post-Covid-Patienten therapeutisch wirksam. Der Hersteller Berlin Cures bereitet derzeit eine Phase-II/III-Studie vor, in der die Wirksamkeit bei Post-Covid-Syndrom getestet werden soll und die Anfang 2023 starten könnte.
Wie schon genannt, sind anhaltende inflammatorische Prozesse ein möglicher Erklärungsansatz für Long Covid. Diese könnten auch zu Blutgerinnungsstörungen führen, wobei hier besonders die Blutplättchen im Fokus stünden, erklärte Dr. Resia Pretorius von der Stellenbosch University in Südafrika. Bei viralen Infekten, so auch bei SARS-CoV-2-Infektionen, könnten diese Blutzellen überstimuliert werden und kleine Verklumpungen (Mikrogerinnsel) bilden.
Das Team um Pretorius konnte solche Mikrogerinnsel, die resistent gegen Fibrinolyse waren, im Blut von Patienten mit Post-Covid-Syndrom nachweisen. »Sowohl das Blut als auch die Verklumpungen enthielten erhöhte Mengen an verschiedenen inflammatorischen Molekülen«, berichtete Pretorius. Erhöht waren vor allem die Spiegel der Akute-Phase-Proteine α2-Antiplasmin und Serum Amyloid A, Platelet Factor 4 und von-Willebrandt-Faktor.
Seine Daten publizierte das Team im Journal »Cardiovascular Diabetology« bereits im August 2021 (DOI: 10.1186/s12933-021-01359-7). Pretorius zufolge könnten die weit verbreiteten Koagulopathien und Endothelschäden einen Teil der Post-Covid-Symptome erklären. Gerade α2-Antiplasmin und der von-Willebrandt-Faktor sind nach Ansicht der Forscherin wichtige Steine des Puzzles zur Long-Covid-Pathologie.
Welche Folgen akute Coronainfektionen auf das Gehirn und dessen Leistung haben können, beschrieb Professor Dr. Clarissa Lin Yasuda, Neurochirurgin von der Universität Estadual de Campinas in Sao Paolo, Brasilien. Covid-19-Patienten hätten in Untersuchungen ein erhöhtes Risiko für Angstsymptome, Depression, Fatigue und Störungen der kognitiven Funktionen gezeigt. In der Bildgebung seien auch corticale Atrophien und Veränderungen der grauen Substanz bei Betroffenen nachgewiesen worden.
Das Virus befalle im ZNS vor allem Astrozyten, spezielle sternförmige Gliazellen, berichtete Yasuda. In diesen könne sich der Erreger vermehren und stelle auch deren Metabolismus um, was zu einer erhöhten Stoffwechselaktivität der Zellen führe. Dadurch könnten die Astrozyten weniger Metaboliten für die benachbarten Neuronen zur Verfügung stellen. »In der Folge erhöht sich die Apoptoserate der Nervenzellen«, berichtete Yasuda.
Inwieweit diese Prozesse bei Long Covid eine Rolle spielen, sei aber noch unklar. Wenn sich die Gliazellen aber nicht erholten, könnte das zu den bei vielen Patienten beobachteten kognitiven und neuropsychiatrischen Problemen beitragen. Hier bestehe noch Forschungsbedarf. »Insgesamt haben wir bei Long Covid mehr Fragen als Antworten«, so Yasuda.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.