Ungesehene Talente bei ADHS und Co. |
Carolin Lang |
26.04.2024 09:00 Uhr |
Auch in der Neurologie herrscht Vielfalt. Das Konzept der Neurodivergenz erkennt neurologische Unterschiede wie andere menschliche Eigenschaften an. / Foto: Getty Images/Iryna Spodarenko
Neuronale Entwicklungsstörungen treten bei schätzungsweise 5 bis 7 Prozent der Bevölkerung auf, häufig beginnend im Kindesalter. Die Sichtweise darauf sei vorwiegend defizitorientiert, bemängelt aktuell ein Team um Dr. Edwin J. Burns von der Abteilung für Psychologie der Universität Swansea in Wales im Journal »Neuropsychologia«. Das heißt, im Fokus stehen meist die kognitiven Beeinträchtigungen, die mit den Störungen einhergehen können und die etwa die sensorische Verarbeitung oder die Aufmerksamkeit betreffen.
Mehr gewürdigt werden sollte, dass Menschen mit neuronalen Entwicklungsstörungen oftmals auch besondere kognitive Stärken aufweisen, zum Beispiel eine verbesserte visuelle Wahrnehmung oder ein ausgeprägtes räumliches oder semantisches Gedächtnis. Diese Stärken seien ebenso wie die Schwächen bei jedem Menschen einzigartig.
Der Begriff Neurodivergenz bezeichnet ein Konzept, nach dem neurologische Unterschiede wie andere menschliche Eigenschaften anerkannt und respektiert werden. Es unterscheidet nicht zwischen »krank« und »gesund«. Dies soll Stigmatisierung entgegenwirken. Alle Menschen sind demnach als neurodivers, also unterschiedlich, zu betrachten. Dabei bilden neurodivergente Menschen, die von der Norm abweichen, also nicht neurotypisch sind, eine Minderheit. Das Konzept wird unter anderem auf die Autismus-Spektrum-Störung, ADHS, Dyskalkulie oder Legasthenie angewendet.
»Unserer Meinung nach würde es die Stigmatisierung Betroffener reduzieren und ihre Bildungs- und Beschäftigungsaussichten verbessern, wenn sich die breite Öffentlichkeit bewusst wäre, dass diese Gruppen viele Stärken und Fähigkeiten aufweisen – von denen einige im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sogar stärker ausgeprägt sind«, erklärt Burns in einer Mitteilung der Universität.
Da sich jede neuronale Entwicklungsstörung unterschiedlich präsentieren könne, seien sie nicht immer einfach zu identifizieren. Würden Kinder nicht angemessen unterstützt, sondern etwa als »faul«, »schwierig« oder »unruhestiftend« abgestempelt, könne dies eine geringere Selbstwirksamkeit zur Folge haben, die wiederum Ängste und Depressionen bis ins Erwachsenenalter begünstige. Das könne die schulischen und beruflichen Leistungen beeinträchtigen. Es sei bezeichnend, dass die Arbeitslosenquote bei Menschen mit neurologischen Entwicklungsstörungen deutlich erhöht ist, heißt es in der Publikation.
In ihrem narrativen Review tragen Burns und Kollegen kognitive Stärken zusammen, die in der Literatur für Menschen mit Autismus-Spektrum-Störung, Legasthenie, ADHS, Dyspraxie, Aphantasie und das Williams-Syndrom beschrieben sind. Da es an systematischen Untersuchungen zu solchen Stärken mangelt, ist die Evidenzlage teilweise dünn, manche Beobachtungen sind nur anekdotisch, andere basieren auf mehreren Studien oder Metaanalysen.