Tucatinib verlängert Überleben |
Brigitte M. Gensthaler |
03.04.2021 08:00 Uhr |
Etwa 15 bis 20 Prozent der Mammatumoren überexprimieren den humanen epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor 2 (HER2). Dann können die Patienten zielgerichtete Therapeutika bekommen. / Foto: Shutterstock/Roman Samborskyi
Tucatinib (Tukysa® 50 mg und 150 mg Filmtabletten, Seagen) wird angewendet in Kombination mit Trastuzumab und Capecitabin zur Behandlung von erwachsenen Patienten mit HER2-positivem, lokal fortgeschrittenem oder metastasiertem Brustkrebs, wenn diese zuvor mindestens zwei gegen HER2 gerichtete Behandlungsregime erhalten haben. Zur Erinnerung: Sowohl die Antikörper Trastuzumab und Pertuzumab und das Antikörper-Wirkstoff-Konjugat Trastuzumab-Emtansin als auch die niedermolekularen Wirkstoffe Lapatinib und Neratinib werden bei HER2-überexprimierenden Mammatumoren eingesetzt.
Die empfohlene Dosis beträgt 300 mg Tucatinib (zwei 150-mg-Tabletten), die zweimal täglich ungefähr im Abstand von zwölf Stunden jeden Tag zur gleichen Zeit unabhängig von den Mahlzeiten eingenommen werden. Hat der Patient die Einnahme vergessen, sollte er die nächste Dosis zur regulär geplanten Zeit schlucken. Das Therapieregime ist kompliziert, denn Tukysa wird kontinuierlich genommen, Capecitabin (gleichzeitige Gabe möglich) nur an den Tagen 1 bis 14 eines 21-Tage-Zyklusses, während Trastuzumab intravenös oder subkutan alle 21 Tage gespritzt wird.
Bei älteren Patienten sowie bei Nieren- oder Leberinsuffizienz ist keine Dosisanpassung nötig. Anders ist es bei Auftreten von Nebenwirkungen wie schwerer Diarrhö oder Leberwerterhöhungen. Dann soll die Therapie zunächst unterbrochen und mit reduzierter Dosis fortgesetzt beziehungsweise ganz abgesetzt werden.
Ist eine gleichzeitige Anwendung von starken CYP2C8-Inhibitoren (Beispiel: Gemfibrozil) nicht zu vermeiden, sollte die Anfangsdosis von Tucatinib auf 100 mg zweimal täglich reduziert werden, da die Tucatinib-Konzentration durch die Wechselwirkung ansteigt. Die gleichzeitige Gabe mit einem starken CYP3A- oder einem moderaten CYP2C8-Induktor verringert die Tucatinib-Konzentrationen und damit möglicherweise dessen Wirkung. Die gleichzeitige Anwendung sollte daher vermieden werden.
Tucatinib ist selbst ein starker CYP3A-Inhibitor und kann daher wechselwirken mit vielen Arzneistoffen, die über CYP3A metabolisiert werden. Die Fachinformation enthält Details zu den diversen pharmakokinetischen Wechselwirkungen und Vorsichtsmaßnahmen.
Tucatinib hemmt reversibel und selektiv die intrazelluläre Tyrosinkinase-Domäne des HER2-Rezeptors. In Tests zur zellulären Signalübertragung war der TKI mehr als 1000-fach selektiver für die Kinase-Domäne von HER2 als für den epidermalen Wachstumsfaktor-Rezeptor EGFR.
In vitro hemmt Tucatinib die Phosphorylierung von HER2 und HER3, was die nachgelagerte Signalübertragung in der Zelle und die Zellproliferation stoppt. In der Folge stirbt die Tumorzelle ab. In vivo hemmt Tucatinib das Wachstum der HER2-gesteuerten Tumorzellen, wobei die Kombination mit Trastuzumab stärker gegen den Tumor wirkt als jedes der Arzneimittel allein.
Wirksamkeit und Sicherheit von Tucatinib in Kombination mit Trastuzumab und Capecitabin wurden in einer randomisierten, doppelblinden, placebokontrollierten Studie geprüft, die im Februar 2020 im New England Journal of Medicine publiziert wurde (HER2CLIMB, DOI: 10.1056/NEJMoa1914609). Alle 612 Patienten – überwiegend Frauen – litten an einem metastasierten HER2-positiven Brustkrebs mit oder ohne Hirnmetastasen und waren stark vorbehandelt. Primärer Endpunkt war das progressionsfreie Überleben (PFS) bei den ersten 480 randomisierten Patienten. Die sekundären Endpunkte umfassten das Gesamtüberleben (OS), das PFS bei Patienten mit Hirnmetastasen sowie die objektive Ansprechrate in der Gesamtpopulation.
Die Patienten erhielten (im Verhältnis 2:1) randomisiert Tucatinib oder Placebo, jeweils kombiniert mit Trastuzumab und Capecitabin. Nach einem Jahr hatten 33,1 Prozent der Teilnehmer unter der Dreifachkombi ein PFS, aber nur 12,3 Prozent in der Gruppe mit Placebo. Das mediane PFS stieg unter der Tucatinib-Kombination von 5,6 auf 7,8 Monate und das mediane OS von 17,4 auf 21,9 Monate. Nach zwei Jahren lebten noch 44,9 Prozent der Patienten in der Tucatinib-Gruppe (versus 26,6 Prozent).
Auch Patienten mit Hirnmetastasen profitierten deutlich von dem neuen Wirkstoff. Nach einem Jahr hatten 24,9 Prozent ein PFS, aber keiner in der Gruppe mit Placebo. Das mediane PFS wurde durch die Gabe des TKI von 5,4 auf 7,6 Monate verlängert.
Da es während der Therapie mit Tucatinib zum deutlichen Anstieg der Leberenzyme AST und ALT sowie von Bilirubin kommen kann, sollten diese Parameter engmaschig kontrolliert werden. / Foto: Adobe Stock/jarun011
Zu den häufigsten Nebenwirkungen mit Schweregrad 3 oder 4 unter Tucatinib gehören Diarrhö und erhöhte Leberenzymwerte. Fast 30 Prozent der Patienten erlitten schwerwiegende Nebenwirkungen wie Diarrhö, Erbrechen und Übelkeit. Bei 6 Prozent der Patienten führten Nebenwirkungen zum Therapieabbruch, meist Diarrhö und erhöhte ALT-Werte. 23 Prozent der Patienten erlitten Nebenwirkungen, die zu einer Dosisreduktion führten.
Neben den genannten Nebenwirkungen kommt es zudem sehr häufig zu Nasenbluten, Stomatitis, Ausschlag, Arthralgie, erhöhten Konzentrationen von Bilirubin und Gewichtsabnahme.
Tucatinib darf bei schwangeren Frauen nicht angewendet werden, es sei denn, dass der klinische Zustand der Frau dies erfordert. In Tierexperimenten wurde eine Reproduktionstoxizität gezeigt. Frauen im gebärfähigen Alter sollten vor Therapiebeginn auf eine Schwangerschaft getestet werden. Die Frau sollte während der Behandlung mit dem neuen TKI nicht stillen.
Das Brustkrebsmittel Tucatinib ist als Schrittinnovation zu sehen. Das liegt teilweise am Wirkmechanismus. Auch die bei Brustkrebs zugelassenen Kinasehemmer Neratinib und Lapatinib greifen unter anderem an der intrazellulären Tyrosinkinase-Domäne des HER2-Rezeptors an. Tucatinib besitzt unter den gegenwärtig zugelassenen HER2-Tyrosinkinasehemmern jedoch die höchste Selektivität.
Auch die Ergebnisse der Zulassungsstudie mit Tucatinib rechtfertigen die vorläufige Einstufung als Schrittinnovation. Es ist die erste Kombinationstherapie mit einem HER2-Tyrosinkinasehemmer, die bei vorbehandelten Patienten mit metastasiertem HER2-positivem Brustkrebs mit oder ohne Hirnmetastasen das Gesamtüberleben und das progressionsfreie Überleben verbessert hat. Etwa 30 bis 50 Prozent der HER2-positiven Patienten entwickeln Hirnmetastasen. Daher ist es eine sehr gute Nachricht, dass sich die Hinzunahme von Tucatinib auch bei Vorliegen aktiver Hirnmetastasen günstig auswirkte und zudem das Risiko für die Entstehung neuer Hirnläsionen im Studienarm, der zusätzlich den Kinasehemmer erhielt, verringert war.
Sven Siebenand, Chefredakteur