Tirzepatid bald verfügbar |
Annette Rößler |
20.11.2023 09:00 Uhr |
Bei der Kombination von Tirzepatid mit einem Sulfonylharnstoff oder Insulin besteht erhöhte Hypoglykämiegefahr. Die Dosierungen des Sulfonylharnstoffs beziehungsweise des Insulins sollten daher reduziert werden, wenn Tirzepatid zu einer entsprechenden bestehenden Therapie hinzugefügt wird. Diese Vorsichtsmaßnahme ist bei einer bestehenden Therapie mit Metformin und/oder einem SGLT2-Hemmer nicht erforderlich.
Wegen der verzögerten Magenentleerung ist bei gleichzeitiger Anwendung von Tirzepatid mit oral verabreichten Wirkstoffen mit geringer therapeutischer Breite, zum Beispiel Digoxin oder Phenprocoumon, erhöhte Vorsicht geboten. Das gilt besonders zu Beginn der Tirzepatid-Therapie und nach einer Dosiserhöhung.
Nur mit Vorsicht angewendet werden sollte Tirzepatid bei Patienten mit schwerer Nieren- oder Leberfunktionsstörung sowie bei solchen mit einer Pankreatitis oder anderen schweren gastrointestinalen Erkrankungen in der Vorgeschichte. Unter der Therapie mit Tirzepatid kann es zu einer akuten Pankreatitis kommen. Ist das der Fall, sollte das Medikament dauerhaft abgesetzt werden. Des Weiteren ist zu beachten, dass Tirzepatid in Studien zu einem Anstieg der Herzfrequenz um drei bis fünf Schläge pro Minute führte.
Die Anwendung von Tirzepatid wird während der Schwangerschaft und bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, nicht empfohlen. In der Stillzeit muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, ob das Stillen beendet oder Tirzepatid pausiert beziehungsweise abgesetzt werden soll, wobei sowohl der Nutzen des Stillens für das Kind als auch der Nutzen der Therapie für die Mutter zu berücksichtigen sind.
Wirksamkeit und Sicherheit von Tirzepatid bei Typ-2-Diabetes wurden im SURPASS-Studienprogramm gezeigt. SURPASS 1 war eine 40-wöchige, doppelblinde, placebokontrollierte Studie mit 478 Teilnehmern, SURPASS 2 eine ebenfalls 40-wöchige Open-Label-Studie mit 1879 Teilnehmern, die entweder Tirzepatid oder Semaglutid erhielten, jeweils in Kombination mit Metformin. SURPASS 3 lief über 52 Wochen, hatte 1444 Teilnehmer und verglich unverblindet Tirzepatid mit Insulin degludec (lang wirksames Basalinsulin), jeweils in Kombination mit Metformin plus/ohne SGLT2-Hemmer. SURPASS 4 hatte eine Dauer von bis zu 104 Wochen und 2002 Teilnehmer, die Metformin und/oder Sulfonylharnstoffe und/oder SGLT2-Inhibitoren sowie open Label entweder Tirzepatid oder Insulin glargin (lang wirksames Basalinsulin) erhielten. Die wiederum 40-wöchige Studie SURPASS 5 schließlich war doppelblind und schloss 475 Patienten unter Insulin glargin plus/ohne Metformin ein, die Tirzepatid oder Placebo erhielten.
Die Änderung des HbA1c-Werts gegenüber dem Ausgangswert war in allen Studien bis auf SURPASS 3 der primäre Endpunkt; in SURPASS 3 war es einer der sekundären Endpunkte, während die Zeit im Zielbereich der kontinuierlichen Glucosemessung den primären Endpunkt darstellte. In allen fünf Studien konnte im Vergleich zu Placebo beziehungsweise zu den aktiven Kontrollbehandlungen eine dosisabhängige, anhaltende und statistisch signifikante Senkung des HbA1c-Werts nachgewiesen werden. So sank der HbA1c-Wert unter Tirzepatid in SURPASS 1 placebobereinigt um bis zu 2,11 Prozent (23,1 mmol/ml), in SURPASS 2 um bis zu 0,60 Prozent (6,6 mmol/ml) stärker als unter Semaglutid, in SURPASS 3 um bis zu 1,04 Prozent (11,3 mmol/ml) stärker als unter Insulin degludec, in SURPASS 4 um bis zu 1,14 Prozent (12,5 mmol/ml) stärker als unter Insulin glargin und in SURPASS 5 placebobereinigt um bis zu 1,65 Prozent (18,1 mmol/ml).
Statistisch signifikant war in allen Studien auch eine dosisabhängige Verringerung des Körpergewichts gegenüber dem Ausgangswert. Der Ausgangs-BMI betrug im Durchschnitt mehr als 30 kg/m2, aber weniger als 35 kg/m2, was einer Adipositas Grad I entspricht. Mit Tirzepatid behandelte Patienten nahmen in SURPASS 1 bis zu 9,5 kg ab, in SURPASS 2 bis zu 12,4 kg (bis zu 6,2 kg mehr als mit Semaglutid), in SURPASS 3 bis zu 12,9 kg, in SURPASS 4 bis zu 11,7 kg und in SURPASS 5 bis zu 10,9 kg. Zu verzeichnen waren darüber hinaus eine Senkung des mittleren Blutdrucks um 6 bis 9 zu 3 bis 4 mmHg sowie dosisabhängig eine Senkung der Triglyceride um bis zu 25 Prozent.
Die häufigsten Nebenwirkungen waren gastrointestinale Störungen wie Übelkeit und Durchfall (sehr häufig) sowie Erbrechen (häufig). Wurde Tirzepatid mit Sulfonylharnstoffen oder Insulin kombiniert, kam es sehr häufig zu Hypoglykämien, bei Kombination mit anderen Antidiabetika waren Hypoglykämien häufig. Ebenfalls häufig waren unter anderem Überempfindlichkeitsreaktionen, andere gastrointestinale Beschwerden, Fatigue, eine erhöhte Herzfrequenz sowie ein Anstieg der Lipase- und Amylasewerte.
Mounjaro soll im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C und in der Originalverpackung aufbewahrt werden. Ungekühlt ist das Medikament insgesamt bis zu 21 Tage bei bis zu 30 °C haltbar.
Vor mehr als 15 Jahren kam das erste Inkretinmimetikum als Diabetesmedikament auf den deutschen Markt: der GLP-1-Rezeptoragonist Exenatid. Seitdem ist viel passiert. Die Markteinführung des ersten Twincretins stellt nun einen erneuten Innovationssprung dar. Tirzepatid ist der erste zugelassene duale GLP-1/GIP-Rezeptoragonist und schon aufgrund des neuen Wirkprinzips als Sprunginnovation zu sehen.
Hervorzuheben sind die positiven Ergebnisse im SURPASS-Studienprogramm. Darin konnte sich der Neuling bei der glykämischen Kontrolle nicht nur gegenüber Placebo, sondern auch gegenüber lang wirksamen Insulinen und insbesondere gegenüber dem GLP-1-Rezeptoragonisten Semaglutid eindeutig durchsetzen. Schon in den SURPASS-Studien fiel zudem der Effekt von Tirzepatid auf das Körpergewicht auf. Dieser wurde in den SURMOUNT-Studien sowohl bei Menschen mit Diabetes als auch bei Nicht-Diabetikern bestätigt. Teils kommt der Gewichtsverlust durch Tirzepatid den zu erwartenden Ergebnissen einer bariatrischen Operation sehr nahe. Die EU-Zulassung bei Adipositas wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Damit wird es auf dem Markt zukünftig eine starke Konkurrenz für Wegovy® geben.
Tirzepatid hat zudem das Potenzial, in weiteren Indikationen vorteilhaft zu sein. Die SURPASS-PEDS-Studie untersucht den Wirkstoff beispielsweise bei Kindern und Jugendlichen mit Typ-2-Diabetes, die SUMMIT-Studie den Einsatz bei Herzinsuffizienz und die SURMOUNT-OSA-Studie die Anwendung bei Adipositas-induzierter obstruktiver Schlafapnoe. Mit Spannung darf man auf die Ergebnisse der kardiovaskulären Outcome-Studie SURPASS-CVOT warten, ein direkter Vergleich mit dem Inkretinmimetikum Dulaglutid, das in einer anderen Studie schon einen kardiovaskulären Nutzen gezeigt hat.
Last, but not least sei betont, dass mit Tirzepatid noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht sein dürfte. Weitere duale Agonisten, Triple-Agonisten und oral verfügbare Kandidaten stehen ebenfalls in den Startlöchern und haben teils noch bessere Studienergebnisse vorzuweisen.
Der Hype um die Inkretinmimetika wird sich also sicherlich fortsetzen. Umso wichtiger wird es sein, ständig auch einen Blick auf die Sicherheit der Präparate zu haben, insbesondere bei längerfristigem Einsatz. Vor allem bei älteren Menschen könnte das nachlassende Hungergefühl zum Abbau von Muskelmasse führen und das Frakturrisiko erhöhen. Vermutlich bald wird sich die EMA auch zum Thema Psyche (Stichwort: Suizidgedanken) unter Inkretinmimetika äußern. Zudem müssten die Hersteller dringend Strategien entwickeln, wie Menschen die Präparate wieder absetzen können, ohne wieder deutlich an Gewicht zuzulegen.
Sven Siebenand, Chefredakteur