Teuflisch gut und heilig bitter |
Fayencekanne für Johanniskrautöl (Inv.-Nr. II E 914, 18. Jahrhundert) und Carrichters Kräuterbuch mit Heilmitteln gegen Verzauberungen (Car 9/3) / © DAM
Als pflanzliches Antidepressivum leistet Johanniskraut gute Hilfe bei depressiven Verstimmungen – eine therapeutische Anwendung, die als Gewinn der Moderne gilt. Auch im Garten des Deutschen Apotheken-Museums ist die äußerlich eher unscheinbare, aber »innerlich« umso wirkkräftigere Pflanze heimisch.
In Hinblick auf historische »Vorläufer« fällt meist der Name Paracelsus. Die Würzburger Forschungsgruppe Klostermedizin verwies auf einen Beleg im Lorscher Arzneibuch – als erratischen Einzelfall. Ansonsten sei die stimmungsaufhellende Wirkung des Johanniskrauts der Schulmedizin weitestgehend unbekannt gewesen. Aber ist das wirklich so?
Der erste Blick scheint das zu bestätigen, denn die großen historischen Drogenkunden, allen voran die Materia medica des Pedanios Dioscurides, aber auch Avicennas Canon medicinae, Hildegards Physica und das Salernitanische Circa instans geben keinen Hinweis auf die Verwendung von Johanniskraut als Antidepressivum.
Das Lorscher Arzneibuch hingegen kennt gleich zwei »Johanniskraut-Präparate« gegen Depression beziehungsweise Melancholie: ein anonymes und eines namens »Hiera Logadion«. Diese Bezeichnung weist bereits über das Lorscher Arzneibuch hinaus auf die antik-byzantinische Rezepttradition.
Das Hiera Logadion gehört zu den sogenannten Hiera-Mitteln. Hiera bedeutet auf Griechisch »heilig«, also Heiligmittel. Diese stellen die älteste Kategorie schulmedizinischer Psychopharmaka und Neuroleptika dar. Entsprechend der Humoralpathologie wurden sie zur Therapie von Störungen der »atra bile«, also der Melancholie oder Schwarzen Galle, eingesetzt. Die damit assoziierten Leiden umfassten ein breites Spektrum von psychiatrisch-neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie, Depression, Wahn und Manien bis hin zu Infektionskrankheiten wie Lepra.
Die Pathologie der Melancholie wurde bereits bei dem antiken Fachschriftsteller Rufus von Ephesos (um 80 bis 150) beschrieben. Für die Arzneimitteltherapie empfahl er Simplicia wie Minze, Quendelseide (Cuscuta epithymum), Koloquinten sowie Schwarze und Weiße Nieswurz.
Johanniskraut im Apothekengarten des Museums / © DAM
Diese Zutaten bildeten auch bei Galenos von Pergamon die Grundlage der Arzneimitteltherapie für Erkrankungen der Schwarzen Galle – wie bei Rufus von Ephesos noch ohne Johanniskraut. Bei Galen ist ein Großteil der später bekannten Hiera-Mittel überliefert.
Die Hiera-Mittel sind scharfe bittere Arzneien. Das bekannteste ist das Galen’sche Hiera picra, Heiligbitter, das als Arzneimittelklassiker noch im 18. Jahrhundert gegen Melancholie empfohlen wurde.
Das ins Lorscher Arzneibuch aufgenommene Hiera Logadion hingegen ist nicht im Werk des Galen, sondern erstmals im 5. Jahrhundert in einer Medicina des nordafrikanischen Kompilators Cassius Felix nachweisbar. Es ist das erste Hiera-Mittel, das Johanniskraut enthält. Im 6. Jahrhundert nahm der byzantinische Arzt Aetius von Amida dieses Rezept in seine Libri medicinales auf.
Hiera Logadion bedeutet so viel wie »Heiligmittel des Logadios«, wobei Logadios ein historisch nur schwer fassbarer griechischer Arzt war, dessen Namen nur mittelbar über andere medizinische Fachschriftsteller verbürgt ist. Von dieser spätantiken Rezeptur – wie auch von anderen Heiligmitteln – gab es allerdings bereits im Frühmittelalter zahlreiche Varianten – mit und ohne Johanniskraut. Ein Blick in die Rezeptarien des Frühmittelalters zeigt, dass das Johanniskraut nicht nur im Lorscher Antidotarium, sondern insgesamt regelmäßiger Bestandteil von Bittermitteln und Antimelancholica war.