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Johanniskraut

Teuflisch gut und heilig bitter

Johanniskraut, Hypericum perforatum, volkstümlich auch bekannt als Fuga daemonum oder »Jageteufel«, gilt heutzutage als eine der am besten erforschten Heilpflanzen. Schon früh erkannte die Heilkunde das Potenzial dieser Pflanze – insbesondere galt es aber als Mittel gegen Dämonen und »Verzauberungen«.
Anne Roestel
03.12.2024  07:00 Uhr

Als pflanzliches Antidepressivum leistet Johanniskraut gute Hilfe bei depressiven Verstimmungen – eine therapeutische Anwendung, die als Gewinn der Moderne gilt. Auch im Garten des Deutschen Apotheken-Museums ist die äußerlich eher unscheinbare, aber »innerlich« umso wirkkräftigere Pflanze heimisch.

In Hinblick auf historische »Vorläufer« fällt meist der Name Paracelsus. Die Würzburger Forschungsgruppe Klostermedizin verwies auf einen Beleg im Lorscher Arzneibuch – als erratischen Einzelfall. Ansonsten sei die stimmungsaufhellende Wirkung des Johanniskrauts der Schulmedizin weitestgehend unbekannt gewesen. Aber ist das wirklich so?

Der erste Blick scheint das zu bestätigen, denn die großen historischen Drogenkunden, allen voran die Materia medica des Pedanios Dioscurides, aber auch Avicennas Canon medicinae, Hildegards Physica und das Salernitanische Circa instans geben keinen Hinweis auf die Verwendung von Johanniskraut als Antidepressivum.

Das Lorscher Arzneibuch hingegen kennt gleich zwei »Johanniskraut-Präparate« gegen Depression beziehungsweise Melancholie: ein anonymes und eines namens »Hiera Logadion«. Diese Bezeichnung weist bereits über das Lorscher Arzneibuch hinaus auf die antik-byzantinische Rezepttradition.

Im Lorscher Arzneibuch: Hiera Logadion

Das Hiera Logadion gehört zu den sogenannten Hiera-Mitteln. Hiera bedeutet auf Griechisch »heilig«, also Heiligmittel. Diese stellen die älteste Kategorie schulmedizinischer Psychopharmaka und Neuroleptika dar. Entsprechend der Humoralpathologie wurden sie zur Therapie von Störungen der »atra bile«, also der Melancholie oder Schwarzen Galle, eingesetzt. Die damit assoziierten Leiden umfassten ein breites Spektrum von psychiatrisch-neurologischen Erkrankungen wie Epilepsie, Depression, Wahn und Manien bis hin zu Infektionskrankheiten wie Lepra.

Die Pathologie der Melancholie wurde bereits bei dem antiken Fachschriftsteller Rufus von Ephesos (um 80 bis 150) beschrieben. Für die Arzneimitteltherapie empfahl er Simplicia wie Minze, Quendelseide (Cuscuta epithymum), Koloquinten sowie Schwarze und Weiße Nieswurz.

Diese Zutaten bildeten auch bei Galenos von Pergamon die Grundlage der Arzneimitteltherapie für Erkrankungen der Schwarzen Galle – wie bei Rufus von Ephesos noch ohne Johanniskraut. Bei Galen ist ein Großteil der später bekannten Hiera-Mittel überliefert.

Die Hiera-Mittel sind scharfe bittere Arzneien. Das bekannteste ist das Galen’sche Hiera picra, Heiligbitter, das als Arzneimittelklassiker noch im 18. Jahrhundert gegen Melancholie empfohlen wurde.

Das ins Lorscher Arzneibuch aufgenommene Hiera Logadion hingegen ist nicht im Werk des Galen, sondern erstmals im 5. Jahrhundert in einer Medicina des nordafrikanischen Kompilators Cassius Felix nachweisbar. Es ist das erste Hiera-Mittel, das Johanniskraut enthält. Im 6. Jahrhundert nahm der byzantinische Arzt Aetius von Amida dieses Rezept in seine Libri medicinales auf.

Hiera Logadion bedeutet so viel wie »Heiligmittel des Logadios«, wobei Logadios ein historisch nur schwer fassbarer griechischer Arzt war, dessen Namen nur mittelbar über andere medizinische Fachschriftsteller verbürgt ist. Von dieser spätantiken Rezeptur – wie auch von anderen Heiligmitteln – gab es allerdings bereits im Frühmittelalter zahlreiche Varianten – mit und ohne Johanniskraut. Ein Blick in die Rezeptarien des Frühmittelalters zeigt, dass das Johanniskraut nicht nur im Lorscher Antidotarium, sondern insgesamt regelmäßiger Bestandteil von Bittermitteln und Antimelancholica war.

Von Constantinus Africanus empfohlen

Der Melancholie-Traktat des Rufus von Ephesos beeinflusste nicht nur Galenos von Pergamon, sondern bildete um 900 auch die Grundlage für eine Abhandlung des arabischen Arztes Ishaq ibn Imran, die dann wiederum im 11. Jahrhundert von Constantinus Africanus unter dem Titel »De accidentibus melancolie et eius diffinitione« ins Lateinische übertragen wurde.

Als Therapie für die hypochondrische Melancholie mit den Symptomen Niedergeschlagenheit, Furcht, Todesangst und Misstrauen empfiehlt Constantinus Africanus Johanniskrautsamen und den ausgepressten Pflanzensaft. Hier treffen jetzt medizinische Theorie und praktische Arzneimitteltherapie zusammen.

Zu den Symptomen der wahnhaften Melancholie zählen bei Constantinus Africanus und seinen Fachkollegen Einbildungen (imaginationes) wie figurae nigrae (schwarze Gestalten) oder spectra (Erscheinungen). Dies spielt eine nicht unwichtige Rolle in Hinblick auf die spätere Karriere des Johanniskrauts als »Superpflanze« zum Vertreiben von Dämonen und als Schutz gegen Hexereien und Verzauberungen. Von der Imagination, der subjektiven Einbildung, die einem Kranken »spectra« vorgaukelt, ist es nämlich nur ein kurzer semantischer Sprung zur Einmischung »realer« Dämonen.

Darauf verweist im 16. Jahrhundert die humanistische Etymologie: Hypericon, von Altgriechisch hyper eicon, im Lateinischen super imaginem, bedeutet, »über die Erscheinungen und Gespenster eine Herrschaft oder Gewalt« zu haben. Und weil es die Gespenster bezwinge, so werde das Johanniskraut auch Fuga daemonum genannt. Dass sich das Motiv der Geister- beziehungsweise Teufelsaustreibung im Zusammenhang mit Johanniskraut bereits im Spätmittelalter einiger Beliebtheit erfreute, zeigt sich in Handschriften-Illustrationen wie derjenigen im anonym verfassten »Tractatus de herbis« (15. Jahrhundert).

Warum die Bezeichnung Fuga daemonum?

Der bislang früheste Nachweis für die Bezeichnung Fuga daemonum findet sich im 14. Jahrhundert in einem der Schlüsselwerke der spätmittelalterlichen Alchemie, dem Liber de consideratione quintae essentiae omnium rerum des Franziskaners Johannes von Rupeszissa (um 1311 bis 1365).

Der Name Fuga daemonum kommt hier nicht von ungefähr, sondern beruht vermutlich entweder auf einem Übertragungsfehler beim Kopieren, einer missverstandenen Korrektur oder auch einfach auf einem genialen Kniff. Im Canon medicinae des Avicenna trägt nämlich in der lateinischen Übertragung des Gerhard von Cremona das Johanniskraut den Beinamen »uva demonis syriace«: »Teufelstraube, wie es auf Syrisch heißt«.

Dieser Name wurde bei späteren Bearbeitungen als enzyklopädischer Ballast teils mitgeschleppt, teils aufgegeben. Bei Johannes von Rupeszissa taucht das Johanniskraut dann plötzlich als Fuga daemonum auf und zwar passend in einem Kapitel zum drohenden Dämonenbefall an Melancholie erkrankter Patienten. Da »uva« und »fuga« fast gleichlautend sind, liegt der Verdacht nahe, dass fuga eine Manipulation von uva darstellt.

Was spricht für Rupeszissa als Urheber dieser Manipulation? Im Gegensatz zu den professionellen medizinischen Fachschriftstellern des Mittelalters vermischt sich der Ansatz bei Rupeszissa stark mit der Theologie und insbesondere mit der von der Amtskirche nicht anerkannten Endzeitspiritualität des Joachim von Fiore. Rupeszissa schreibt in Einklang mit der medizinischen Tradition, dass jeder Körpersaft seine eigene Art von Einbildungen hervorbringe, ein Überschuss der Schwarzen Galle aber die allerschrecklichsten Gedanken. Die Schwarze Galle steige ins Gehirn, wo sie alles durcheinanderbringe, Einbildungen hervorrufe, grässliche Verwirrung stifte und Tag- und Nachtrhythmus durcheinanderwerfe. So erzeuge sie denjenigen Zustand, den die Dämonen lieben: die zwanghafte und hoffnungslose Traurigkeit (tristitia phantastica). Hier finde sie ein Einfallstor zu den Gedanken des Kranken und könne großes Unheil stiften.

Was die Traurigkeit vertreibt, den Menschen fröhlich stimmt und damit auch vor dem Dämon schützt, seien die von Rupeszissa entwickelten alchemischen Quintessenzen aus Gold und Perlen sowie der Samen des Johanniskrauts.

Dass Dämonen den menschlichen Geist infiltrieren können, war keine Erfindung des Rupeszissa, sondern kirchenrechtlich abgesichert. Im Decretum Gratiani (verfasst um 1140), das bis 1917 den Kern des Corpus Iuris Canonici bildete, ist festgelegt, dass Dämonen die inneren Gemütsverfassungen der Menschen wahrnehmen, durch Trugbilder Zugang zu ihren Gedanken finden und Menschen sogar mit Krankheiten anstecken können.

Arznei gegen Verzauberung

Dank Rupeszissa siegte für das Johanniskraut also nun das Wort vom Dämon und als Fuga daemonum fand es auch Eingang in die frühneuzeitlichen Inquisitionshandbücher und den juristisch-medizinischen Hexendiskurs. Der Inquisitor Ghirolamo Menghi, ebenfalls ein Franziskaner, zitierte im 16. Jahrhundert in seinem Handbuch »Flagellum daemonum seu exercismi terribiles« ausführlich den Dämonenparagrafen seines Ordensbruders Rupeszissa und empfahl zur Unterstützung des Exorzismus das Räuchern von Johanniskrautsamen.

Die Nutzung des Johanniskrauts zur Vertreibung von Dämonen, zur Bannung von Hexen und zur Heilung angezauberter Krankheiten beschäftigte aber nicht nur die Hexentheoretiker von Jakob Sprenger bis zu Jean Bodin, sondern auch die populäre Heilkunde. Kräuterbücher wie der Titel »Von Gründlicher Heylung der Zauberischen Schäden und Vergifften Ascendenten zustand«, verfasst von dem paracelsistischen Arzt Bartholomäus Carrichter, boten Arzneien gegen Verzauberungen und Sympathiemittel in Hülle und Fülle. Sie begründeten eine eigene Rezepttradition, die sich in gedruckten und handschriftlichen Rezeptsammlungen abseits der offizinellen Pharmazie immer weiter verzweigte. Eines dieser Heilmittel gegen Verzauberungen verirrte sich im aufgeklärten 18. Jahrhundert dann sogar in die Pharmakopoea Wirtenbergica.

Der Ruch des Aberglaubens trug vermutlich dazu bei, dass Johanniskraut zunächst einmal fast ganz in Vergessenheit geriet und erst im 20. Jahrhundert wieder aus dem Dornröschenschlaf geweckt wurde. Heute ist es einer der »Stars« der Heilpflanzenszene.

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