| Daniela Hüttemann |
| 30.05.2023 18:00 Uhr |
Von der Speiseröhre bis zum Enddarm können Reizungen und Beschwerden auftreten. Behandelt wird multimodal und symptomatisch. Dabei sollte das Symptom, das die stärksten Einschränkungen verursacht, vorrangig behandelt werden. / Foto: Getty Images/bymuratdeniz
Früher wurden solche Beschwerden ohne erkennbare pathophysiologische Ursache häufig als psychosomatisch abgetan. »Das spielt sich aber nicht allein im Kopf ab – Reizdarm und Reizmagen sind keine psychischen Erkrankungen, sondern es läuft etwas verkehrt im Magen-Darm-Trakt«, betonte Professor Dr. Ahmed Madisch vom Centrum Gastroenterologie Bethanien, Frankfurt am Main, kürzlich bei einer Presseveranstaltung des Pharmaunternehmens Schwabe in Hamburg.
Reizdarm ist derzeit im Prinzip eine Ausschlussdiagnose für gastrointestinale Beschwerden, die länger als zwölf Wochen anhalten und kein organisches Krankheitsbild in der Routinediagnostik zeigen. »Die Betonung liegt hier auf der Routinediagnostik«, so der Gastroenterologe. Die aktuelle Forschung habe durchaus körperliche Auffälligkeiten im Blick.
Als ein Auslöser wird eine Dysbiose des Darmmikrobioms diskutiert. Erste Untersuchungen zeigen, dass sich die Darmflora von Reizdarm-Patienten und Menschen ohne Beschwerden unterscheiden, erklärte Madisch. Dafür spreche, dass bei manchen Patienten die Beschwerden erstmals nach einem Magen-Darm-Infekt oder einer Antibiotika-Behandlung als möglichen Triggern auftraten.
Eine weitere Theorie: Während einer akuten Darmschleimhautentzündung aufgrund eines Infekts reagiert das alarmierte Immunsystem auch auf potenzielle Nahrungsmittel-Allergene, die es bislang toleriert hat, da durch eine gestörte Barrierefunktion Allergene vorübergehend tiefer ins Gewebe eindringen können als normalerweise – der Patient entwickelt eine Unverträglichkeit oder Überempfindlichkeit gegen Nahrungsmittel, die er während seines Infekts gegessen hat. Verhindern lässt sich das laut Madisch nicht.
Bei einer Subgruppe von Patienten werde auch eine Überempfindlichkeit der Bauchnerven vermutet. Sie spüren, teils schmerzhaft, Darmbewegungen, die man normalerweise nicht bewusst wahrnimmt (»wie ein Aal im Bauch«). Madisch sprach hier von einer Störung der Darm-Hirn-Achse. Zusammengefasst seien komplexe, multiple organische Veränderungen an der Entstehung von Reizdarm und Reizmagen beteiligt.
Professor Dr. Martin Storr, Gastroenterologe vom Zentrum für Endoskopie in Starnberg und Zentrum für Innere Medizin in Gauting, betonte, dass Diagnostik und Therapie möglichst früh erfolgen sollten, um eine Chronifizierung zu verhindern. Reizdarm-Beschwerden könnten phasenweise stärker und schwächer sein. Die Therapie könne hierauf abgestimmt werden.
»Der Patient sollte frühzeitig auf eine Reizdarm-geeignete Ernährung eingestellt werden«, so der Mediziner, der auch Autor des Buches »Das Reizdarm-Programm« ist. Als Stichwort nannte er eine FODMAP-arme Diät. FODMAP steht für fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide und Polyole, also kurzkettige Kohlenhydrate und Zuckeralkohole. Sie seien per se nicht ungesund, aber bei Reizdarm-Beschwerden ungünstig.
Die Erklärungsansätze bieten mögliche Ansatzpunkte für Therapien, zum Beispiel Probiotika bei einer Dysbiose, allerdings gibt es hier bislang noch keine klinisch etablierten Behandlungsmöglichkeiten. Solange bleibt es, auch gemäß der S3-Leitlinie zum Reizdarm, bei einer symptomatischen Behandlung. Die Leitlinie empfiehlt eine multimodale Therapie mit Lebensstil- und Ernährungsänderungen, Entspannungsmaßnahmen, kognitiver Verhaltenstherapie und auch symptomlindernden klassischen Medikamenten sowie Phytopharmaka.
Bei einer medikamentösen Therapie soll das Symptom, das den Patienten selbst am meisten stört, im Mittelpunkt stehen, betonte Storr, ob es Durchfall, Sodbrennen oder Krämpfe sind. Man könne mit einer Tablette nicht alles auf einmal angehen und das müsse man dem Patienten auch so kommunizieren. »Ich sage meinen Patienten oft, stellen Sie sich vor, ich sei ein Zauberer, kann aber nur ein Symptom nach dem anderen wegzaubern – welches soll es zuerst sein?«
Während die chemisch-synthetischen Arzneistoffe in der Regel gezielt ein Symptom angehen, habe man mit den Phytopharmaka Vielstoffgemische, die eine breitere Wirkung erzielen können, so Storr, doch auch sie seien keine Zaubermittel.
Als phytotherapeutische Option bei den Leitsymptomen Schmerzen und Blähungen empfiehlt die Leitlinie eine Therapie mit Pfefferminzöl-haltigen Arzneimitteln (Empfehlung 9-1,Empfehlungsgrad A, starker Konsens). Dazu gehört das Präparat Carmenthin® von Schwabe, das neben Pfefferminzöl auch Kümmelöl enthält. »Die Kombination macht Sinn: Pfefferminz wirkt krampflösend und schmerzlindernd, Kümmel entblähend und hemmt die Gasbildung«, erklärte Storr. Die Inhaltsstoffe der Pfefferminze würden spannungshemmende Calcium-Kanäle der glatten Darmmuskulatur hemmen sowie den Kälterezeptor TRPM8 aktivieren und dadurch Schmerzsignale blockieren, so die postulierte Wirkung. Zudem werde die Oberflächenspannung von Schäumen im Darm reduziert und pathogene Mikroorganismen selektiv gehemmt.
Storr stellte auch Ergebnisse einer neuen, von ihm geleiteten und von Schwabe finanzierten placebokontrollierten, doppelblinden, vierwöchigen Studie vor, mit einer unverblindeten elfmonatigen Follow-up-Phase. Demnach linderte Carmenthin Schmerzen, Krämpfe, Druck- und Völlegefühl signifikant stärker als das Placebo (DOI: 10.1055/a-1823-1333). »Es wirkt vielleicht nicht sofort nach der Einnahme, aber eine erste Besserung tritt bereits in den ersten Tagen auf. Nach vier Wochen hatte sich der Schmerz halbiert.« Der stärkste Effekt trat im ersten Monat ein, doch auch danach nahmen die Symptome über die zwölf Monate der Studie kontinuierlich weiter ab.
In der S3-Leitlinie heißt es weiterhin: »Mehrere weitere phytotherapeutische Präparate haben sich als wirksam zur Symptomlinderung erwiesen und sollten individuell ins Behandlungskonzept integriert
werden.« (Empfehlung 9-2, Empfehlungsgrad B, starker Konsens).
Man sollte die Patienten darauf hinweisen, dass sie bei Reizdarm-Beschwerden ein Medikament für eine gewisse Zeit einnehmen müssen, damit die Pathophysiologie zurückgehe, was mindestens vier bis sechs Wochen dauert, erläuterte Gastroenterologe Storr. So könne sich auch die Darm-Hirn-Achse neu regulieren. Eine exakte Therapiedauer lasse sich pauschal nicht nennen, da die Beschwerden so individuell sind. »Therapieziel ist, dass Symptombild deutlich zu verbessern – das kann länger dauern, wenn die Beschwerden schon lang bestehen.«
»Auch ohne Therapie erleben die Patienten ein Auf und Ab ihrer Beschwerden. Ziel ist es, die Spitzen zu kappen, was wir oft nach acht bis zehn Wochen schaffen. Dann kann man einen Auslassversuch machen«, ergänzte Madisch. Mit Rückfällen sei leider zu rechnen, manchmal nach drei Monaten, manchmal erst nach einem Jahr. Dann könne man wieder gezielt therapieren.
Auch wenn man einige Medikamente über eine längere Dauer anwenden kann, empfahl Madisch keine medikamentöse Dauertherapie – mit einer Ausnahme: »Das einzige Symptom, das konsequent behandelt werden muss, ist die Verstopfung.«
Genau wie Storr war ihm eine frühe ärztliche Abklärung wichtig. In der Selbstmedikation könne das Apothekenteam bei Reizdarm-artigen Beschwerden nur eine symptomatische Therapie für zwei Wochen empfehlen, so Madisch. »Wer chronische Beschwerden hat, sollte früh eine konsequente Diagnostik machen lassen. Wir müssen wissen, ob nicht ein anderes Problem vorliegt, das wir konkret behandeln können und müssen.« Wenn die Diagnose Reizdarm dagegen ärztlich abgesichert sei, dürfe der Patient in der akuten Beschwerdephase aber länger zur Selbstmedikation greifen.