So funktioniert ein OTC-Switch |
Daniela Hüttemann |
04.07.2023 13:00 Uhr |
Die Anwendung eines Medikaments ohne ärztliche Rücksprache muss vor allem sicher für den Patienten sein. Das wird auch durch eine fachkundige Beratung in der Apotheke gewährleistet. / Foto: Getty Images/Tom Werner
Grundsätzlich unterliegen neu zugelassene Wirkstoffe zunächst einmal der Verschreibungspflicht. Nach einer gewissen Zeit, wenn mehr Erkenntnisse zur Sicherheit und auch seltenen Nebenwirkungen aus der Praxis vorliegen, kann ein Wirkstoff aus der Verschreibungspflicht entlassen werden. Das passiert nicht automatisch, sondern auf Antrag. Einen solchen Antrag kann im Prinzip jeder stellen, auch Privatpersonen. In der Regel ist der Antragsteller jedoch ein Hersteller des Original- oder auch eines Nachahmerpräparats. Er bleibt anonym, wenn er sich nicht selbst dazu bekennt.
Der Antrag wird zunächst vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) auf Vollständigkeit und Schlüssigkeit geprüft. Dann wird er auf die Tagesordnung des Sachverständigenausschusses für Verschreibungspflicht gesetzt, der regulär zweimal im Jahr tagt. Zusätzlich erstellt das BfArM eine Stellungnahme, die an den Hersteller und die Mitglieder des Sachverständigenausschusses geht. Seit 2020 hat der Antragsteller die Möglichkeit, seinen Antrag im Ausschuss vorzustellen, bevor dieser wissenschaftlich diskutiert und abgestimmt wird.
Das Gremium besteht aus zehn stimmberechtigten und acht nicht stimmberechtigten Mitgliedern, darunter vor allem Mediziner und auch einige Pharmazeuten von den Hochschulen sowie der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK). Die zwei Industrievertreter sind nicht stimmberechtigt. Eine aktuelle Liste der berufenen Mitglieder ist auf der BfArM-Website einsehbar.
Die Sitzungen des Sachverständigenausschusses sind nicht öffentlich. Die Ergebnisse werden zunächst als Kurzprotokoll und mit etwas Abstand als Langprotokoll mit anonymisierter Diskussion veröffentlicht. Die Mitglieder des Ausschusses haben vor allem folgende Fragen zu beantworten:
Die Verschreibungspflicht von Arzneimitteln ist grundsätzlich in § 48 des Arzneimittelgesetzes (AMG) geregelt, die zugehörige Rechtsverordnung ist die Arzneimittel-Verschreibungsverordnung (AMVV). In deren Anlage 1 sind alle Arzneistoffe gelistet, die in Deutschland der Verschreibungspflicht unterliegen. Kommt es zu einem OTC-Switch, wird die AMVV geändert. Dies veranlasst nicht der Sachverständigenausschuss, sondern das Bundesgesundheitsministerium (BMG), wobei die Empfehlungen des Ausschusses für das Ministerium nicht bindend sind. Die vom BMG gegenebenfalls verfasste Verordnung zur Änderung der AMVV geht an den Bundesrat, der darüber in seinem Gesundheitsausschuss berät, bevor es zur Abstimmung kommt.
Laut dem Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) sei die Zustimmung des Bundesrats in der Vergangenheit eher Formsache gewesen. In jüngster Zeit bringe sich der Bundesrat jedoch aktiver in diesen Prozess ein. Stimmt er zu, tritt der OTC-Switch mit der Verkündung der neuen Verordnung im Bundesgesetzblatt in Kraft. Dann dürfen die Hersteller Packungen zur Selbstmedikation mit der entsprechenden Kennzeichnung auf den Markt bringen (die alten Rx-Packungen dürfen nicht einfach ohne Rezept abgegeben werden, auch wenn sie von der Dosierung, Packungsgröße und Darreichungsform her identisch sind). Auch der umgekehrte Fall ist möglich, dass ein Arzneimittel, das es bisher rezeptfrei gab, unter die Verschreibungspflicht gestellt wird; man spricht dann von einem Re-Switch.
In der Regel werden nicht alle Medikamente mit einem bestimmten Wirkstoff aus der Verschreibungspflicht entlassen, sondern bestimmte Dosierungen, Packungsgrößen und Darreichungsformen. Zum Beispiel unterliegt Paracetamol seit 2009 der Verschreibungspflicht, wenn eine Packung insgesamt mehr als 10 Gramm des Wirkstoffs enthält. Auch das Alter der Patienten spielt eine Rolle. Manche Präparate sind zwar als OTC-Medikament erhältlich, dürfen bei jüngeren Kindern aber nur ärztlich verordnet angewendet werden. Es kann auch weitere Bedingungen geben; zum Beispiel müssen Apotheken bei der Abgabe von Triptanen abfragen, ob der Patient eine ärztlich abgesicherte Migräne-Diagnose hat.
Beim möglichen OTC-Switch von Sildenafil (Viagra® und Generika) zur Behandlung der erektilen Dysfunktion ist nun eine außergewöhnliche Situation eingetreten. Dieser Wirkstoffs stand in einer Dosierung von 50 mg mit maximal vier Tabletten pro Packung bereits im Januar 2022 auf der Tagesordnung. Damals lehnte der Sachverständigenausschuss den Antrag auf Entlassung aus der Verschreibungspflicht einstimmig ab. Ende 2022 wurde bekannt, dass das BMG dennoch den OTC-Switch von Sildenafil prüft, und zwar insbesondere vor dem Hintergrund des illegalen Handels mit dem Potenzmittel. Dabei sollten zunächst die Ansichten von Fachverbänden eingeholt und die Erfahrungen aus anderen Ländern berücksichtigt werden, in denen der Wirkstoff bereits nicht mehr rezeptpflichtig ist.
Als dann am 13. Juni die Tagesordnung für die nächste reguläre Sitzung des Sachverständigenausschusses am 11. Juli veröffentlicht wurde, stand Sildenafil erneut darauf, dieses Mal mit den 25-mg-Tabletten. Zudem wird in der Sitzung der Antrag diskutiert werden, auch den verwandten, länger wirksamen PDE-5-Hemmer Tadalafil 10 mg aus der Verschreibungspflicht zu entlassen.
Es bleibt abzuwarten, wie das Votum des Ausschusses in diesen Angelegenheiten ausfallen wird. Dass die Mehrheit der Mitglieder ihre wissenschaftlich begründete Einschätzung zu Sildenafil in den letzten anderthalb Jahren geändert haben könnte, scheint zweifelhaft. Zwar hat Viagra-Hersteller Viatris vor Kurzem ein Gutachten zur Selbstmedikation mit Sildenafil erstellen lassen. Die urologischen Fachverbände (selbst nicht im Ausschuss vertreten) hatten sich jedoch erst vergangene Woche erneut eindeutig gegen den OTC-Switch ausgesprochen. Sollte sich der Ausschuss wieder gegen den OTC-Switch aussprechen, wird es interessant sein, wie das BMG darauf reagiert. Auf aktuelle Nachfrage teilte es der PZ lediglich mit, es werde nach der Sitzung des Sachverständigen-Ausschusses das weitere Vorgehen prüfen.
Beim Notfallkontrazeptivum mit Levonorgestrel war es übrigens umgekehrt: Hier hatte sich der Sachverständigenausschuss 2004 und 2014 für eine Entlassung aus der Verschreibungspflicht ausgesprochen, das BMG war dagegen. Allerdings wurde dann auf europäischer Ebene ein Jahr später die Rezeptpflicht für Ulipristalacetat als Notfallkontrazeptivum EU-weit aufgehoben. Daraufhin wurde dann doch auch Levonorgestrel als Notfallpille in Deutschland aus der Verschreibungspflicht entlassen.