Polymedikation als Lebensretter |
Daniela Hüttemann |
14.05.2025 16:20 Uhr |
Polypharmazie ist grundsätzlich negativ konnotiert, für viele ältere Menschen aber durchaus angemessen und lebensverlängernd. / © Getty Images/Maskot
Vor Kurzem hat die Herzinsuffizienz-Gruppe (HFA) der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie (ESC) ein Konsensus-Statement unter dem Titel »How to handle polypharmacy in heart failure« herausgebracht. Da Patienten mit Herzinsuffizienz meist älter sind, liegen fast immer weitere Erkrankungen vor, die eine Medikation erfordern, unter anderem sehr häufig Vorhofflimmern und Dyslipidämie sowie Diabetes, Depression, COPD und Nierenerkrankungen. Hinzu kommen Arzneimittel aus der Selbstmedikation, Nahrungsergänzungsmittel und nicht selten Homöopathika. Eine Tablettenlast von mindestens 12 Medikamenten pro Tag ist eher die Regel als die Ausnahme.
Daher sind die vorgeschlagenen Strategien zur Reduzierung von Polymedikation der Herzinsuffizienz-Gruppe zu begrüßen. Bei der Frage, welche Arzneimittel beibehalten werden, sollten lebensverlängernde Arzneimittel priorisiert werden, empfehlen die Autoren.
Unterstrichen wird diese Empfehlung in einem begleitenden Editorial im »European Journal of Heart Failure« vom deutschen Kardiologen Professor Dr. Ulrich Laufs vom Uniklinikum Leipzig, seinem US-amerikanischen Kollegen Associate Professor Dr. Stephen Greene von der Duke University School of Medicine in Durham, North Carolina, sowie Professor Dr. Martin Schulz, Geschäftsführer Arzneimittel bei der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände und Honorarprofessor für Klinische Pharmazie an der Freien Universität Berlin.
Allerdings warnen die drei Kommentatoren vor einem Weglassen leitliniengerechter Arzneimittel um des Deprescribings Willen. Allein die leitliniengerechte Therapie der Herzinsuffizienz erfordere mindestens vier Arzneistoffklassen, meist sogar fünf (siehe Kasten). »Uns sind keine randomisierten Herzinsuffizienz-Studien bekannt, die die Schlussfolgerung der HFA-Konsenserklärung unterstützen, dass ›Polypharmazie [...] mit [...] beeinträchtigter Lebensqualität, mehr Krankenhausaufenthalten und schlechterer Prognose verbunden ist‹«, kritisieren Laufs, Greene und Schulz.
Im Gegenteil: Der frühe Einsatz einer viergleisigen Therapie verlangsame das Remodelling, erhalte die Herzfunktion, reduziere Vorhofflimmern sowie das Risiko für plötzlichen Herztod. Die Zwei-Jahres-Mortalität sinkt um schätzungsweise 73 Prozent und die Lebensqualität wird verbessert statt verschlechtert. Ein 70-jähriger Patient könne im Schnitt fünf Lebensjahre gewinnen.
Alle Patienten mit Herzinsuffizienz mit reduzierter Auswurffraktion (HFrEF) sollten ab Diagnosestellung mindestens vier Medikamente erhalten (»Fantastic Four«) und zwar jeweils einen Vertreter dieser Wirkstoffklassen:
Diese Empfehlung gilt seit 2021. Alle vier Arzneistoffklassen verbessern jede für sich und additiv die Prognose. Zusätzlich brauchen die meisten Herzinsuffizienz-Patienten noch ein Diuretikum.
An dieser Medikation kann sich die weitere Therapieauswahl wenn möglich orientieren. Beispielsweise sollte also bei Typ-2-Diabetes ein SGLT-2-Hemmer bevorzugt eingesetzt werden, bei Vorhofflimmern ein Betablocker.
Nicht einverstanden sind Schulz et al. mit der Konsensus-Empfehlung zur Anwendung üblicher Deprescribing-Tools wie Beers-Kriterien oder STOPP/START. Der klinische Nutzen dieser Tools sei nicht bewiesen und gerade ältere und gebrechlichere Patienten würden von der Quadrupel-Therapie der Herzinsuffizienz überproportional profitieren.
»Auch wenn es von größter Wichtigkeit ist, unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu vermeiden, und auch wenn prognostische Therapien in der Palliativmedizin nicht indiziert sind, sind ein höheres Alter und Gebrechlichkeit per se kein triftiger Grund, um Patienten ohne absolute Kontraindikationen den Zugang zu Therapien zu verweigern, die nachweislich klinische Ereignisse reduzieren und die Lebensqualität mit hohem absolutem Nutzen in dieser Population verbessern«, heißt es im Kommentar. Und auch die Komorbiditäten gelte es, leitliniengerecht anzugehen.