Pharmazie
Die Sache sei sehr kompliziert, und entschieden sei noch nichts. Dr.
Susanne Diedrich vom Robert-Koch-Institut in Berlin kann auch keine
Auskunft darüber geben, wann und wie die bisherige orale Polio-Impfung mit
dem Lebendimpfstoff (OPV) durch eine neue intravenöse Injektion mit
inaktiviertem Impfstoff (IPV) ersetzt werden soll. Nur daß sie ersetzt werde,
sei so gut wie sicher.
Warum die gute alte Schluckimpfung aufgeben? Zentraler Grund für die
Überlegungen zum Wechsel sind impfstoffbedingte Polio-Fälle (Vaccine associated
paralytic Poliomyelitis, VAPP). Diese VAPP ist selten, aber schwerwiegend. Sie tritt
beim Impfling selbst oder bei seinen Kontaktpersonen auf. Professor Dr. Günther
Maass von der Deutschen Vereinigung zur Bekämpfung der Viruskrankheiten in
Münster nannte auf einem von SmithKline Beecham organisierten Symposium in
Berlin Zahlen: Zwischen 1964 und 1995 traten in Deutschland insgesamt 27
impfbedingte Polio-Erkrankungen bei Impflingen und elf bei Kontaktpersonen auf.
Im Jahr sind das durchschnittlich ein bis zwei Fälle. Die letzte autochtone (durch ein
Wildvirus hervorgerufene) Polioerkrankung wurde in Deutschland 1988 registriert.
Nach i.v.-Impfung mit dem Tot-Impfstoff wurde bisher keine VAPP beobachtet. Er
hat jedoch zwei wesentliche Nachteile. Erstens: Er ist teurer in der Herstellung und,
sofern er separat gespritzt werden muß, auch in der Anwendung. Zweitens: Er
gewährt zwar dieselbe humorale, aber nicht dieselbe intestinale Immunität. Das heißt,
der Individualschutz ist derselbe, der Kollektivschutz ist jedoch geringer. Der Grund
dafür ist folgender: Das Impfvirus des Lebend-Impfstoffes wird nach peroraler
Aufnahme wie das Wildvirus im Darm vermehrt. Dadurch wird zunächst die
intestinale Immunantwort stimuliert, so daß bei einem späteren Kontakt mit dem
Wildvirus schon dessen Vermehrung im Darm gestoppt wird. Ausscheidung und
weitere Verbreitung des Erregers bleiben damit begrenzt.
Solange der Erreger noch in einer Bevölkerungsgruppe persistiert. solange also das
Risiko für eine Wildinfektion höher ist als für eine Impfinfektion, scheint es sinnvoller,
die Schluckimpfung beizubehalten. Auch Länder, in denen OPV durch IPV ersetzt
wurde, wie beispielsweise Norwegen oder Schweden, setzen zur Abriegelung bei
gehäuftem Auftreten der Krankheit wieder OPV ein, berichtete Maass. Ist aber das
Polio-Virus (wie in Deutschland) weitgehend ausgerottet, wird also die Impfung zur
hauptsächlichen Ursache einer Kinderlähmung, sind Zweifel über das Verhältnis von
Nutzen und Risiko verständlich.
Neben der ausschließlichen OPV- oder IPV-Impfung steht auch die sequentielle
Impfung (erst IPV, dann OPV) zur Diskussion. Dahinter steht folgende Überlegung:
An einer impfbedingten Kinderlähmung erkranken überwiegend Kinder unter einem
Jahr, bei denen ein Immundefekt unerkannt blieb. Mit zunehmendem Alter erhöht
sich die Wahrscheinlichkeit, daß Störungen der Immunabwehr rechtzeitig vor einer
Auffrischung mit OPV diagnostiziert werden. Die Umstellung auf eine reine
IPV-Impfung setzt Durchimpfungsraten von über 80 Prozent voraus. Dieses Ziel sei
aber nicht utopisch, meinte Maass, da auch mit dem DT-Impfstoff ähnliche Quoten
erreicht würden.
PZ-Artikel von Stephanie Czajka, Berlin



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