Paracetamol mal wieder in Verruf |
Annette Rößler |
29.09.2022 15:00 Uhr |
Aufmerksamkeits- und Schlafprobleme bei Kindern im Alter von drei Jahren waren in einer aktuellen Studie mit der Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft assoziiert. / Foto: Adobe Stock/pahis
Die Publikation, die aktuell im Fachjournal »PLOS ONE« erschienen ist, stellt eine Auswertung der First Baby Study (FBS) dar, an der in den Jahren 2009 bis 2011 insgesamt 3006 Erstgebärende im US-Bundesstaat Pennsylvania teilgenommen hatten. Die FBS sollte untersuchen, wie sich die Art der Entbindung des ersten Kindes auf spätere Schwangerschaften auswirkt. Ebenfalls erfasst wurden das persönliche Stressempfinden und der Medikamentengebrauch der Mütter während der Schwangerschaft per Selbstauskunft im dritten Trimenon.
Für die jetzt publizierte Analyse berücksichtigten die Autoren um Professor Dr. Kristin K. Sznajder vom Pennsylvania State University College of Medicine in Hershey 2423 Mutter-Kind-Paare der FBS, für die zusätzlich zu diesen Angaben auch eine Einschätzung des Kindes im Alter von drei Jahren vorlag. Diese hatten die Mütter anhand der 99 Punkte umfassenden Child Behavior Checklist (CBCL) selbst vorgenommen. Die CBCL erlaubt eine Beurteilung von entwicklungsneurologischen und das Verhalten betreffenden Eigenschaften von Kleinkindern.
Ein möglicher Zusammenhang zwischen der Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft und entwicklungsneurologischen Auffälligkeiten beim Kind, etwa Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen oder Autismus, war bereits in früheren Untersuchungen aufgefallen. Allerdings war dabei aus Sicht von Sznajder und Kollegen zu wenig berücksichtigt worden, ob die Mütter in der Schwangerschaft gestresst waren, was ebenfalls solche Probleme verursachen kann. Dieses Manko wollten sie beheben, indem sie beide Faktoren erfassten.
Die Auswertung ergab, dass Kinder von Müttern, die in der Schwangerschaft gestresst gewesen waren, in allen sieben Kategorien der CBCL – emotionale Reaktivität, Ängstlichkeit/Depressivität, somatische Beschwerden, Introvertiertheit, Schlafprobleme, Aufmerksamkeitsprobleme und Aggressvität – signifikant erhöhte Werte aufwiesen. Beim höchsten Stresslevel reichten die Anstiege von 22,1 Prozent bei somatischen Beschwerden bis 40,7 Prozent bei Aufmerksamkeitsproblemen.
Die Kinder der 1011 Mütter, die in der Schwangerschaft Paracetamol eingenommen hatten, schnitten in den drei CBCL-Kategorien Introvertiertheit, Schlaf- und Aufmerksamkeitsprobleme signifikant höher ab als der Rest. Wurden jedoch der Faktor »mütterlicher Stress« und andere mögliche Verzerrungen in die Berechnung mit einbezogen, war das Risiko nur noch für Schlaf- und Aufmerksamkeitsprobleme signifikant erhöht (adjustierte Odds Ratio 1,23 beziehungsweise 1,21).
Aus Sicht der Autoren bestätigen diese Ergebnisse, dass die Anwendung von Paracetamol in der Schwangerschaft zurückhaltend erfolgen müsse. Der beobachtete Risikoanstieg war zwar nicht riesig. Da Paracetamol aber so überaus häufig angewendet werde, sei dennoch damit zu rechnen, dass sich daraus ein Gesundheitsproblem ergebe, das unter Public-Health-Gesichtspunkten relevant ist.
Dies bestätigt Dr. Ann Z. Bauer, die am Zentrum für Autismusforschung und -bildung der University of Massachusetts forscht und nicht an der Studie beteiligt war: »Diese Befunde sind wichtig, weil der Gebrauch von Paracetamol so weit verbreitet ist.« Die in dieser Studie gefundene Risikoerhöhung für Aufmerksamkeitsprobleme liege in der Größenordnung wie bei früheren Untersuchungen. Auch wenn Paracetamol das individuelle Risiko somit nur geringfügig erhöhe, könnte es, weil es das in der Schwangerschaft am häufigsten eingesetzte Analgetikum ist, für einen großen Teil der neurologischen Probleme in der Gesamtbevölkerung verantwortlich sein, so Bauer.
Dr. Wolfgang Paulus, Leiter der Beratungsstelle für Reproduktionstoxikologie an der Universitätsfrauenklinik Ulm, schränkt jedoch ein, dass die Ergebnisse dieser Studie nur »grenzwertig signifikant« seien. Denn in beiden Kategorien, in denen eine signifikante Risikoerhöhung festgestellt wurde, lag die untere Grenze des Konfidenzintervalls der aOR bei 1,01. Damit bestehe statistisch nur ein »marginaler Zusammenhang«. Er betont: »Eine kausale Verknüpfung zwischen Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft und neurologischen Defiziten der Kinder ist damit keinesfalls nachgewiesen.«
Paulus verweist auf eine Konsensuserklärung von Wissenschaftlern, die im vergangenen Jahr im Fachjournal »Nature Reviews Endocrinology« erschien und für einen zurückhaltenden Einsatz von Paracetamol in der Schwangerschaft plädierte. Das Schmerzmittel soll demnach nur gegeben werden, wenn es medizinisch indiziert ist, und auch dann nur in der niedrigsten wirksamen Dosis für die kürzeste mögliche Zeit. Diesen Aussagen stimmt Paulus zwar zu, doch sieht er auch die Gefahr, dass die Verbreitung solcher Warnungen in den Medien bei schwangeren Frauen »für Zweifel, Angst, Schuldgefühle und Misstrauen gegenüber der Ärzteschaft« sorge. Festzuhalten sei zudem, dass andere Analgetika wie nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) oder Opioide bei Schwangeren definitiv keine besseren Alternativen seien.
Weitere gravierende Mängel der Studie sieht Paulus darin, dass weder die Dosis und die Häufigkeit noch der Zeitpunkt der Einnahme von Paracetamol in der Schwangerschaft erfasst wurden. Angesichts der unterschiedlichen Stadien der Sensibilität in der kindlichen Entwicklung wäre dies aber von Bedeutung gewesen.
Insgesamt übt der Experte scharfe Kritik an der Art und Weise, wie zu diesem Thema geforscht und publiziert wird: »Die grenzwertig signifikanten Resultate in etlichen Studien zu Entwicklungsstörungen nach mütterlicher Einnahme von Paracetamol erwecken den Eindruck eines Publikationsbias.« In der Tat kann man sich fragen, warum zum Beispiel die Autoren der aktuellen Publikation die Daten dieser Kohortenstudie, in der es eigentlich um etwas ganz anderes ging, ausgerechnet hinsichtlich der Paracetamol-Anwendung ausgewertet haben.