Nur rigorose Maßnahmen helfen |
Brigitte M. Gensthaler |
11.02.2021 15:00 Uhr |
Trübe Aussichten: Nach Computersimulationen des Pandemiegeschehens muss der Lockdown verlängert und verschärft werden. / Foto: Getty Images/demaerre
Lehr, der den Lehrstuhl für Klinische Pharmazie der Universität des Saarlandes innehat, stellte bei einem Webseminar von Health Care Bayern das von ihm entwickelte Projekt CoSim vor. Der Covid-19-Simulator dient der Vorhersage von Infektionszahlen, Intensivbettenbelegung und Todesraten, aber auch der Wirksamkeit von nicht-pharmazeutischen Interventionen. Das Team um Lehr modelliert seit März 2020 das Pandemiegeschehen in Deutschland und veröffentlicht wöchentlich aktuelle Daten
Das Modell zeige deutlich, dass die Reproduktionszahl, der R(t)-Wert, im ersten und zweiten Lockdown sank, während Reiserückkehrer oder Lockerungen an den Feiertagen den Wert steigen ließen. Derzeit liege der Wert in Deutschland bei 0,8 bis 0,82, mit großen regionalen Schwankungen. Aktuell stagniere der Wert im Saarland und in Bremen bei 1 oder höher. »Dagegen stehen vor allem die ostdeutschen Bundesländer wie Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt sowie Berlin und Brandenburg mit einem R-Wert um 0,7 und darunter derzeit gut da. Hier fällt der Wert.« Viele Bundesländer lägen im Mittelfeld unter 0,8 bis unter 0,9. Das ist für den Wissenschaftler »nicht niedrig genug«.
Sorgen bereite auch die Sieben-Tage-Inzidenz. »Eine Inzidenz von 50 wurde in der ersten Welle nie erreicht.« Seit Mitte Juli 2020 liege der R-Wert immer über 1 und damit nahmen die Infektionen zu. In der Simulation sehe man, dass das System bei einer Inzidenz um die 20 gekippt sei, sagte der Apotheker. »Im gesamten Sommer hatten wir ein unkontrolliertes Infektionsgeschehen. Außerhalb harter Maßnahmen war die Pandemie niemals unter Kontrolle.«
In die Simulationen lässt das Team um Lehr auch die Virusmutanten (Variants of concern) einfließen. Diese kämen »mit Siebenmeilenstiefeln nach Deutschland«. Lehr zeigte Szenarien mit der Annahme, dass die Varianten 35 oder 50 Prozent ansteckender sind als der »Wildtyp«. Bei einem R(t)-Wert von 0,8 bis Juni und alleiniger Wildtyp-Ausbreitung würde die Sieben-Tage-Inzidenz ab März absinken. Wenn die Mutanten kommen, übernähmen diese ab März/April trotz beibehaltenem Lockdown die Vorreiterrolle.
Laut Simulation »könnten wir die Mutanten bei einem R von 0,6 noch weiter im Zaum halten; doch sobald gelockert wird, steigt der R-Wert auf 1,0 bis 1,2 und dann gehen die Kurven durch die Decke.« Dann erreiche man sofort Inzidenzen von 200 bis 300 und eine dritte Welle drohe. »Kleine Unterschiede des R-Werts haben monströsen Einfluss auf den Verlauf der Pandemie«, resümierte der Apotheker.
Die Auswirkungen der Impfungen zu prognostizieren, nannte Lehr »eine Rechnung mit vielen Unbekannten«. Bei dreifacher Impfgeschwindigkeit und gleicher Übertragbarkeit der Viren erwarte er ab Juni eine Trendwende, wenn 20 bis 30 Prozent der Menschen geimpft sind. Dies würde die Sterblichkeit und die Belastung der Krankenhäuser deutlich senken. Für das Impfen gilt: »Je schneller, umso besser.«
Da die Pandemie nur mit rigorosen Maßnahmen in den Griff zu bekommen sei, plädierte der Wissenschaftler für eine Verlängerung des Lockdown mit verschärften Maßnahmen und eine genaue Ursachenanalyse. »Und wir brauchen eine gemeinsame Exit-Strategie, die auf No-Covid setzten muss, bis die Impfung breit verfügbar ist.«
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.