Neues Radiotherapeutikum auf dem Markt |
Annette Rößler |
03.07.2024 07:00 Uhr |
Pluvicto ist ein β--Strahler: Das enthaltene Lutetium-177 zerfällt zu Hafnium-177 und gibt dabei ein Elektron ab. / Foto: Getty Images/Corbis/VCG (Symbolbild)
Das Prostata-spezifische Membranantigen (PSMA) ist ein Glykoprotein, das laut dem Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) vor allem auf der Oberfläche von Prostatakrebszellen vorkommt. Auf gesunden Zellen der Prostata sei PSMA sehr viel weniger und in übrigen Körperzellen kaum zu finden, informierte das DKFZ, das an der Entwicklung von (177Lu)Lutetiumvipivotidtetraxetan (Pluvicto® 1000 MBq/ml Injektions-/Infusionslösung, Novartis Pharma) beteiligt war, schon vor einigen Jahren. Die EU-Zulassung des Arzneimittels erfolgte 2022, als Neueinführung beim ABDATA Pharma-Daten-Service wurde es zum 1. Juni 2024 gemeldet.
Pluvicto ist ein β--Strahler. Das enthaltene Lutetium-177 zerfällt mit einer Halbwertszeit von 6,647 Tagen unter Abgabe eines Elektrons zu stabilem Hafnium-177. Das Radionuklid ist in Pluvicto an einen niedermolekularen Liganden mit einer hohen Affinität zum PSMA gekoppelt. Das Molekül bindet an PSMA-exprimierende Tumorzellen, wird durch Endozytose ins Zellinnere aufgenommen und gibt dort seine Strahlung ab. Es kommt zu DNA-Schäden und in der Folge zum Zelltod. Die Reichweite der β--Strahlung beträgt nur wenige Millimeter, sodass Zellen in der unmittelbaren Umgebung des Tumors ebenfalls geschädigt werden, weiter entfernt liegendes Gewebe aber kaum.
Das neue Therapeutikum kommt erst bei fortgeschrittener Krebserkrankung zum Einsatz. Es wird immer mit einer Androgendeprivationstherapie kombiniert und darf ausschließlich bei Männern mit progredientem PSMA-positiven, metastasierten, kastrationsresistenten Prostatakarzinom (mCRPC) angewendet werden, die zuvor einen Inhibitor des Androgenrezeptor-(AR-)Signalwegs und eine taxanbasierte Chemotherapie erhalten haben. Bei Patienten, die nicht chirurgisch kastriert sind, sollte die medikamentöse Kastration mit einem GnRH-Analogon beibehalten werden.
Das empfohlene Behandlungsschema beträgt 7400 MBq intravenös alle sechs Wochen (± eine Woche) bis zu einer Gesamtzahl von maximal sechs Dosen. 7400 MBq entsprechen dem Inhalt einer Durchstechflasche der gebrauchsfertigen Lösung. Das Volumen der Lösung kann zwischen 7,5 und 12,5 ml liegen.
Schreitet die Krebserkrankung unter der Therapie weiter fort oder kommt es zu inakzeptabler Toxizität, soll sie nicht fortgeführt werden. Verschiedene Nebenwirkungen können eine vorübergehende Behandlungsunterbrechung, eine Dosisreduktion oder ein dauerhaftes Absetzen erforderlich machen. Welche das sind, ist in der Fachinformation detailliert aufgelistet. Um die entsprechenden Veränderungen des Blutbildes sowie der Nieren- und Leberfunktion zu erfassen, müssen vor und während der Behandlung Labortests durchgeführt werden. Besteht von vorneherein eine mittelschwere bis schwere Nierenfunktionsstörung, wird die Anwendung von Pluvicto nicht empfohlen.
Um die Strahlenbelastung der Blase möglichst gering zu halten, sollten Patienten viel trinken und möglichst oft Wasserlassen. Nach jeder Verabreichung von Pluvicto sollten sie für die Dauer von zwei Tagen engen Kontakt (weniger als 1 m) mit anderen Haushaltsmitgliedern meiden; zu Kindern und schwangeren Frauen soll diese Distanz für die Dauer von sieben Tagen eingehalten werden. Zudem soll nach jeder Gabe sieben Tage lang auf sexuelle Aktivität verzichtet werden und der Patient für drei Tage getrennt von anderen Mitgliedern des Haushalts in einem eigenen Schlafzimmer schlafen (sieben Tage lang getrennt von Kindern und 15 Tage lang getrennt von Schwangeren). Während der Behandlung und für die Dauer von 14 Wochen nach der letzten Dosis sollte der Patient kein Kind zeugen und beim Geschlechtsverkehr Kondome verwenden.
Die Wirksamkeit von Pluvicto wurde in der randomisierten, multizentrischen, offenen Phase-III-Studie VISION gezeigt. An ihr nahmen 831 Patienten mit progredientem, PSMA-positiven mCRPC teil, von denen 551 insgesamt bis zu sechs Dosen Pluvicto 7400 MBq plus bestmögliche Standardversorgung (BSoC) und 280 BSoC allein erhielten. Die primären Wirksamkeitsendpunkte waren das Gesamtüberleben (OS) und das radiografische progressionsfreie Überleben (rPFS) entsprechend einer verblindeten unabhängigen zentralen Begutachtung. Zu den sekundären Endpunkten zählten die Gesamtansprechrate (ORR) und die Zeit bis zum ersten skelettbezogenen Ereignis (SSE).
Pluvicto plus BSoC war BSoC signifikant überlegen. Es waren sowohl ein längeres OS von median 15,3 versus 11,3 Monaten als auch ein längeres rPFS von median 8,7 versus 3,4 Monaten zu verzeichnen. Auch die Vorteile in den sekundären Endpunkten ORR (29,8 versus 1,7 Prozent) und SSE (median 11,5 versus 6,8 Monate) waren signifikant.
Die häufigsten Nebenwirkungen der Therapie waren Ermüdung (43,1 Prozent der Behandelten), Mundtrockenheit (39,3 Prozent), Übelkeit (35,3 Prozent), Anämie (31,8 Prozent), verminderter Appetit (21,2 Prozent) und Obstipation (20,2 Prozent). Als Nebenwirkungen der Grade 3 bis 4 traten am häufigsten Anämie (12,9 Prozent), Thrombozytopenie (7,9 Prozent), Lymphopenie (7,8 Prozent) und Ermüdung (5,9 Prozent) auf.
Pluvicto-Durchstechflaschen sind in der Originalverpackung zur Abschirmung von einem Bleibehältnis umschlossen und sollen in diesem aufbewahrt werden. Die Dauer der Haltbarkeit beträgt 120 Stunden (fünf Tage) ab dem Tag und Zeitpunkt der Kalibrierung. Als radioaktives Arzneimittel darf Pluvicto nur von dazu berechtigten Personen in speziell dafür bestimmten klinischen Einrichtungen in Empfang genommen, gehandhabt und angewendet werden.
Mit Pluvicto® steht die erste Radioligandentherapie zur Behandlung des metastasierten, kastrationsresistenten Prostatakarzinoms (mCRPC) zur Verfügung. Die personalisierte Therapie mit (177Lu)Lutetiumvipivotidtetraxetan setzt gezielt an Zellen an, die positiv für den Marker Prostataspezifisches Membranantigen (PSMA) sind. Diese Carboxypeptidase ist insbesondere auf Prostatakarzinomzellen und deren Metastasen hochexprimiert. PSMA als Zielstruktur für die Radioligandentherapie zu wählen, ist damit eine gute Idee.
Die Einstufung als Sprunginnovation erfolgt jedoch nicht nur aufgrund des innovativen Wirkprinzips, sondern auch wegen der Studiendaten. Die Phase-III-Studie VISION konnte zeigen, dass Pluvicto das Gesamtüberleben vorbehandelter mCRPC-Patienten in der Drittlinie signifikant verlängern kann. Auch das radiografische progressionsfreie Überleben war unter (177Lu)Lutetiumvipivotidtetraxetan signifikant überlegen. Hinzu kommt eine Verbesserung von Schmerz und der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Die Radioligandentherapie ist dabei vergleichsweise gut verträglich.
Der Gemeinsame Bundesausschuss hat dem schon seit Ende 2022 zugelassenen Präparat übrigens einen Hinweis für einen beträchtlichen Zusatznutzen bei mCRPC-Patienten, für die Abirateron in Kombination mit Prednison oder Prednisolon, Enzalutamid oder bestmögliche Standardversorgung die am besten geeignete Therapie ist, zuerkannt. Für die Patientengruppe, die alternativ mit Cabazitaxel als zweite Taxan-basierte Chemotherapie oder einem PARP-Hemmer behandelt werden könnte, wurde aber aufgrund unzureichender Datenlage ein Zusatznutzen als nicht belegt angesehen.
Zukünftig könnten auch andere Patienten von dieser Radioligandentherapie profitieren. In der PSMAfore-Studie wurde (177Lu)Lutetiumvipivotidtetraxetan bei Chemotherapie-naiven mCRPC-Patienten untersucht. Im April 2024 hat Novartis angekündigt, im zweiten Halbjahr bei der US-amerikanischen Arzneimittelagentur FDA einen Antrag auf eine Zulassungserweiterung von Pluvicto einzureichen. Ziel sei es, eine Indikation bei fortgeschrittenem Prostatakrebs vor der Behandlung mit einer Taxan-basierten Chemotherapie zu erhalten. Zu gegebener Zeit könnten später andere Zulassungsbehörden folgen, teilt Novartis mit.
Sven Siebenand, Chefredakteur