Neues Corticosteroid auf dem Markt |
Annette Rößler |
02.02.2024 07:00 Uhr |
Dystrophin verleiht Muskelzellzellen ihre Struktur. Bei Patienten mit Duchenne-Muskeldystrophie fehlt das Protein, weshalb Muskeln allmählich durch Fett und Bindegewebe ersetzt werden. / Foto: Getty Images/Science Photo Library/Steve Gschmeissner
Die Duchenne-Muskeldystrophie (DMD) ist eine seltene Erkrankung, bei der ein Mangel des Strukturproteins Dystrophin vorliegt. Dystrophin ist für das Funktionieren von Muskeln unerlässlich, weshalb es bei DMD-Patienten zu einem fortschreitenden Verfall der Skelettmuskulatur und deren Ersatz durch Bindegewebe kommt. Da die Krankheit X-chromosomal-rezessiv vererbt wird, sind nahezu ausschließlich Jungen betroffen; bei ihnen ist die DMD die häufigste angeborene neuromuskuläre Krankheit.
Hoch dosierte Corticosteroide können das Fortschreiten der DMD etwas verlangsamen (siehe Kasten). Mit Vamorolon (Agamree® 40 mg/ml Suspension zum Einnehmen, Santhera) kam nun ein modifiziertes Corticosteroid auf den Markt, das bei DMD-Patienten ab einem Alter von vier Jahren angewendet werden darf. Der Hersteller bezeichnet den Wirkstoff als dissoziatives Corticosteroid und spricht in einer Mitteilung von einem First-in-Class-Wirkstoff.
Corticosteroide können das Fortschreiten der DMD zwar verlangsamen, sind aber in den erforderlichen hohen Dosen mit den bekannten Nebenwirkungen verbunden und stellen zudem keine kausale Therapie dar. Anders ist das bei dem Wirkstoff Ataluren (Translarna®), der Fehler beim Ablesen der Dystrophin-Gens ausgleicht. Solche Fehler treten bei 13 Prozent der Patienten mit DMD auf, die eine nachgewiesene sogenannte Nonsens-Mutation tragen. Translarna kam 2014 für diese Subgruppe der DMD-Patienten in der EU auf den Markt. Im vergangenen Jahr nahm die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) eine vollständige Neubewertung des Nutzens und der Risiken des Arzneimittels vor und fand dabei keine ausreichenden Belege für die Wirksamkeit. Sie plädierte dafür, die Genehmigung für das Inverkehrbringen von Translarna in der EU nicht zu verlängern, sodass dessen Tage nun wohl gezählt sind. Gar nicht erst zugelassen hatte die EMA den ähnlichen Wirkstoff Eteplirsen (Exondys®), der allerdings in den USA verfügbar ist.
Was bedeutet »dissoziativ«? Laut Santhera bindet Vamorolon zwar an Glucocorticoid-Rezeptoren und wirkt dadurch wie die klassischen Corticosteroide entzündungshemmend, verändert aber die nachfolgende Aktivität der Rezeptoren. Dadurch lasse sich die erwünschte Wirkung möglicherweise von den Nebenwirkungen »dissoziieren«, so der Hersteller. Am Mineralocorticoid-Rezeptor wirkt Vamorolon antagonistisch.
Vamorolon soll einmal täglich in der empfohlenen Dosis von 6 mg pro kg Körpergewicht (KG) mit oder ohne Nahrung eingenommen werden. Bei Patienten, die mehr als 40 kg wiegen, beträgt die empfohlene Dosis 240 mg einmal täglich. Bei Verträglichkeitsproblemen kann die Dosis zunächst auf 4 mg/kg KG/Tag und schließlich auf 2 mg/kg KG/Tag gesenkt werden. Eine Dosisreduktion muss dabei stets in kleinen Schritten über mehrere Wochen erfolgen. Bei Patienten mit mittelschwerer Leberfunktionsstörung werden maximal 2 mg/kg KG/Tag empfohlen (80 mg ab einem KG von 40 kg); Patienten mit schwerer Leberfunktionsstörung sollen gar nicht mit Vamorolon behandelt werden. Bei gleichzeitiger Anwendung mit starken CYP3A4-Inhibitoren beträgt die empfohlene Dosis von Vamorolon 4 mg/kg KG/Tag.
Werden Patienten von einer oralen Glucocorticoid-Therapie auf Vamorolon umgestellt, kann das nahtlos geschehen. Patienten, die zuvor langfristig mit Glucocorticoiden behandelt wurden, sollten Vamorolon anschließend direkt in der Dosierung von 6 mg/kg KG/Tag erhalten, um eine sogenannte Nebennierenkrise zu vermeiden. Dies ist ein Zustand, der mit extremer Müdigkeit, plötzlicher Schwäche, Erbrechen, Schwindel oder Verwirrtheit einhergeht und unter der Therapie mit Vamorolon auch in Phasen von erhöhtem Stress oder bei Infektionen eintreten kann, wenn der Steroidbedarf erhöht ist. Auf mögliche Symptome und die dann erforderlichen Maßnahmen weist eine Patientenkarte hin, die mit Vamorolon behandelte Patienten stets bei sich tragen sollten.
Lebendimpfstoffe oder abgeschwächte Lebendimpfstoffe dürfen nur bis sechs Wochen vor Beginn der Therapie mit Vamorolon verabreicht werden. War ein Patient noch nicht an Windpocken erkrankt, sollte er vor Therapiestart auch gegen das Varizella-zoster-Virus geimpft werden.
Obwohl die DMD eine Erkrankung ist, die nahezu ausschließlich Jungen betrifft, fehlen die Absätze zu Schwangerschaft und Stillzeit in der Fachinformation nicht. Demnach darf Vamorolon in der Schwangerschaft nicht angewendet werden, es sei denn, der klinische Zustand der Frau macht dies erforderlich. Frauen im gebärfähigen Alter müssen während der Behandlung mit Vamorolon zuverlässig verhüten; das Stillen soll unterbrochen werden.
Die Wirksamkeit von Vamorolon wurde in einer randomisierten, doppelblinden Studie gezeigt, an der 121 Jungen mit DMD im Alter von vier bis unter sieben Jahren teilnahmen. Die Patienten, die nicht mit Corticosteroiden vorbehandelt waren, erhielten entweder 6 mg Vamorolon/kg KG/Tag (n = 30), 2 mg Vamorolon/kg KG/Tag (n = 30), 0,75 mg Prednison/kg KG/Tag (n = 31) oder Placebo (n = 30).
Die primäre Wirksamkeitsanalyse nach 24 Wochen zeigte sowohl bei der Zeit, die die Kinder zum Aufstehen brauchten (TTSTAND-Geschwindigkeit), als auch bei der im Sechs-Minuten-Gehtest zurückgelegten Distanz signifikante Vorteile beider Vamorolon-Gruppen gegenüber der Placebogruppe, wobei die Wirksamkeit dosisabhängig war. Prednison war aber in beiden Kategorien noch etwas besser wirksam als Vamorolon in der höheren Dosierung (1,24 versus 1,05 Sekunden Verbesserung bei der Aufstehbewegung und 44,1 versus 24,6 Meter Verlängerung der Gehstrecke).
Die häufigsten Nebenwirkungen von Vamorolon waren Pseudo-Cushing-Syndrom, Erbrechen, Gewichtszunahme und Reizbarkeit.
Agamree ist nach Anbruch drei Monate haltbar. Das Präparat soll aufrecht stehend im Kühlschrank bei 2 bis 8 °C aufbewahrt werden.
Vamorolon bringt bei der Behandlung der Duchenne-Muskelatrophie (DMD) einen Fortschritt und kann damit vorläufig als Schrittinnovation bezeichnet werden. Es ist das erste in der EU uneingeschränkt zugelassene Arzneimittel für Patienten mit DMD. Hinzu kommt ein neuartiger Wirkmechanismus.
Vamorolon bindet zwar an denselben Rezeptor wie Glucocorticoide, dessen nachgeschaltete Aktivität ist aber offensichtlich modifiziert. Zudem sei der Arzneistoff laut Hersteller kein Substrat für 11-β-Hydroxysteroid-Dehydrogenasen, was für die lokale Erhöhung im Gewebe und für dortige Corticosteroid-assoziierte Toxizität aber notwendig wäre. Vamorolon wird daher auch als dissoziativer Entzündungshemmer bezeichnet. Das heißt, er soll die Wirksamkeit von den Nebenwirkungen abkoppeln. Er könnte daher eine Alternative zu Glucucorticoiden bei DMD darstellen.
Was in der Theorie ausgezeichnet klingt, zeigt sich in der Praxis aber leider nicht ganz. Zum einen war Vamorolon in der Zulassungsstudie zwar Placebo überlegen, Prednison aber nicht. Tendenziell war es sogar etwas schwächer wirksam als das bekannte Glucocorticoid. Und die Nebenwirkungen? Zu den am häufigsten gemeldeten unerwünschten Ereignissen zählte auch unter Vamorolon cushingoides Aussehen. Was andererseits aber wieder für Vamorolon als andersartiges Glucocortocoid spricht, sind Ergebnisse, die zeigen, dass der Wirkstoff im Gegensatz zu Corticoiden das Wachstum nicht einschränkt und auch keine negativen Auswirkungen auf den Knochenstoffwechsel hat. Weitere Daten zu dem Wirkstoff gilt es abzuwarten, um dann gegebenenfalls eine neue Einstufung vorzunehmen. Interessant wäre zudem, ob der Arzneistoff als Alternative zu Glucocorticoiden auch in anderen Indikationen funktioniert.
Sven Siebenand, Chefredakteur