Neuer Ansatz zur Hemmung des Komplementsystems |
Annette Rößler |
04.05.2022 07:00 Uhr |
Bei der paroxysmalen nächtlichen Hämoglobinurie greift ein Teil des Immunsystems die eigenen Erythrozyten an und zerstört sie. Betroffene Patienten leiden an Anämie. / Foto: Getty Images/Bloomberg Creative
Das Komplementsystem ist ein Teil des angeborenen Immunsystems, das ähnlich wie die Blutgerinnung kaskadenartig aktiviert wird. Bei Patienten mit paroxysmaler nächtlicher Hämoglobinurie (PNH) sind die Erythrozyten aufgrund eines Gendefekts unzureichend vor einem Angriff und anschließenden Abbau durch das Komplementsystem geschützt. Infolge der chronischen Hämolyse leiden betroffene Patienten an Anämie, zudem sind venöse Thromboembolien an atypischen Stellen und eine Zytopenie Teil der Krankheitsbilds.
Zur Behandlung von Patienten mit PNH stehen die beiden Antikörper Eculizumab (Soliris®) und Ravulizumab (Ultomiris®) zur Verfügung. Sie richten sich gegen den Komplementfaktor C5. Weiter oben in der Komplementkaskade steht der Faktor C3. Er ist das Target des neuen Arzneistoffs Pegcetacoplan (Aspaveli® 1080 mg Infusionslösung, Sobi). Das neue Medikament darf bei erwachsenen Patienten mit PNH eingesetzt werden, die bereits mindestens drei Monate lang einen C5-Inhibitor erhalten haben und dennoch anämisch sind.
Pegcetacoplan setzt sich zusammen aus zwei identischen Pentadekapeptiden und einem linearen PEG-Molekül, an dessen Enden die beiden Peptide kovalent gebunden sind. Mit den Peptiden bindet es an den Komplementfaktor C3, der PEG-Anteil sorgt für eine verbesserte Löslichkeit und verlängert die Halbwertszeit. Im Gegensatz zu den C5-Inhibitoren, die bei Patienten mit PNH vor allem die intravasale Hämolyse verhindern, kann mit Pegcetacoplan durch die Hemmung von C3 auch die extravasale Hämolyse gestoppt werden.
Die empfohlene Dosis von Pegcetacoplan sind jeweils 1080 mg an den Tagen 1 und 4 jeder Woche, die als subkutane Infusion im Bereich des Abdomens, der Oberschenkel, der Hüfte oder der Oberarme gegeben werden. Liegt der Spiegel der Laktatdehydrogenase (LDH) bei einem Patienten mehr als doppelt so hoch wie normal, kann die Dosis auf 1080 mg alle drei Tage erhöht werden. Bei der Umstellung von einem C5-Inhibitor soll dieser zunächst über vier Wochen parallel zu Pegcetacoplan weitergegeben werden, bevor er dann abgesetzt wird und Aspaveli als Monotherapie fortgesetzt wird.
Die Infusion soll mithilfe einer Spritzeninfusionspumpe über 30 Minuten (bei gleichzeitiger Gabe an zwei Stellen) beziehungsweise 60 Minuten (bei Gabe an nur einer Stelle) verabreicht werden. Wenn ein Patient die ersten Infusionen in einer Arztpraxis/Klinik vertragen hat und von medizinischem Personal geschult wurde, kann er sich Aspaveli zu Hause selbst infundieren. Unabhängig davon sind alle Patienten unter Aspaveli regelmäßig unter anderem durch Bestimmung des LDH-Spiegels auf Anzeichen einer Hämolyse zu überwachen. Auch eine regelmäßige Prüfung der Nierenfunktion wird empfohlen.
Die C3-Hemmung schwächt die Abwehrkräfte des Patienten gegen bekapselte Bakterien, zu denen etwa die Erreger Neisseria meningitidis, Streptococcus pneumoniae und Haemophilus influenzae zählen. Mit Pegcetacoplan behandelte Patienten müssen daher gegen diese geimpft sein beziehungsweise werden. Besteht zu Beginn der Therapie noch kein Impfschutz, muss bis zwei Wochen nach der Impfung eine Antibiotikaprophylaxe erfolgen.
Die Anwendung von Pegcetacoplan bei Frauen im gebärfähigen Alter, die nicht verhüten, wird nicht empfohlen. Gleiches gilt für das Stillen, das unter der Therapie eingestellt werden sollte.
Zulassungsrelevante Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit des neuen Arzneistoffs stammen aus der offenen Phase-III-Studie APL2-302, an der 80 Patienten mit PNH teilnahmen, die trotz einer Therapie mit Eculizumab Hämoglobinspiegel von <10,5 mg/dl aufwiesen. Alle Probanden erhielten während einer vierwöchigen Vorlaufphase zusätzlich zu ihrer aktuellen Eculizumab-Dosis zweimal wöchentlich 1080 mg Pegcetacoplan. In der anschließenden randomisierten, kontrollierten Phase (RCP) wurden 41 Patienten über 16 Wochen mit Pegcetacoplan weiterbehandelt und 39 mit Eculizumab. In der Pegcetacoplan-Gruppe schlossen 38 Patienten die RCP ab und in der Eculizumab-Gruppe alle 39.
Primärer Wirksamkeitsendpunkt war die Veränderung des Hämoglobinspiegels vom Ausgangswert bis Woche 16. Diese betrug in der Pegcetacoplan-Gruppe +2,4 mg/dl und in der Eculizumab-Gruppe -1,5 mg/dl – ein statistisch signifikanter Vorteil für das neue Präparat. Von den mit Aspaveli behandelten Patienten erreichte jeder dritte (34 Prozent) eine Normalisierung des Hämoglobinwerts, von den Patienten unter fortgesetzter Eculizumab-Therapie keiner. In den sekundären Endpunkten Transfusionsvermeidung und Veränderung der absoluten Retikulozytenzahl konnte die Nichtunterlegenheit von Pegcetacoplan gezeigt werden. Dagegen wurde bei der Veränderung des LDH-Werts die Nichtunterlegenheit verfehlt.
Die häufigsten Nebenwirkungen von Pegcetacoplan waren Reaktionen an der Injektionsstelle, Infektionen der oberen Atemwege, Bauchschmerzen, Durchfall, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Fieber. Als schwerwiegende Nebenwirkungen traten am häufigsten Hämolyse und Thrombozytopenie auf.
Aspaveli ist in der Orginalverpackung bei 2 bis 8 °C im Kühlschrank zu lagern.
PNH ist eine seltene, aber schwere hämatologische Erkrankung, bei der eine unkontrollierte Komplementaktivierung zur Zerstörung der Erythrozyten durch intravasale und extravasale Hämolyse führt. Mit Eculizumab und Ravulizumab gibt es bereits seit einiger Zeit Antikörper, die sich gegen den Komplementfaktor C5 richten und mit Erfolg eingesetzt werden. Es ist aber leider keine Seltenheit, dass Patienten trotz dieser Antikörper Erythrozyten-transfusionsbedürftig bleiben, zum Beispiel wegen residueller intravasaler Hämolyse und der Verschiebung hin zu verstärkter extravasaler Hämolyse. Daher kann Pegcetacoplan – auch wenn es bisher nicht in der Erstlinie zugelassen ist – als relevanter Therapiefortschritt gesehen werden, der die Lebensqualität vieler Betroffener verbessern kann.
Die Einstufung als Sprunginnovation ist bei Pegcetacoplan auch deswegen gerechtfertigt, weil es sich – unabhängig von der Indikation – um den ersten zugelassenen zielgerichteten C3-Komplementinhibitor handelt. Die Daten der Hauptstudie bei PNH untermauern diese Einstufung. Dank Pegcetacoplan stieg der Hämoglobinspiegel bei mit Eculizumab vorbehandelten Patienten, die noch immer anämisch waren. Auch Transfusionen waren seltener notwendig.
Ein Blick in die Pipeline zeigt, dass eine Vielzahl weiterer Komplementinhibitoren mit teils unterschiedlichen Angriffspunkten klinisch geprüft werden, auch bei PNH. Gut möglich, dass es daher in den kommenden Jahren weitere positive Nachrichten bezüglich der Versorgung von Patienten mit PNH geben wird.
Sven Siebenand, Chefredakteur