Moderne Erschöpfung hat antike Wurzeln |
Jennifer Evans |
25.08.2025 11:00 Uhr |
Die Acedia-Theorie jedoch, abgeleitet vom Altgriechischen für Nachlässigkeit, folgte laut der Kulturhistorikerin einem anderen Ansatz: Als sich die geistige Trägheit unter den katholischen Mönchen ausbreitete, erklärte die Kirche sie bald zur Todsünde – und damit war sie moralisch. Die Erschöpfung interpretierte man als »ein ethisches, spirituelles Fehlverhalten«, erläutert sie.
Den Betroffenen warf man vor, sich nicht genug anzustrengen, sprich zu wenig »spirituelle Energie aufzubringen«, um das »tolle Werk Gottes zu würdigen«. Seinerzeit ging man aber davon aus, dass sich die träge Haltung allein mit Willenskraft besiegen ließ. Dennoch haben die Klöster das Problem der »laschen Geisteshaltung« offenbar sehr ernst genommen, wie Schaffner berichtet, und sie teilweise sogar als Ursache für die anderen Todsünden angeführt.
Moralische Denkmuster sieht die Kulturhistorikerin bis heute hinter vielen Formen der Erschöpfung. Einige Menschen hielten es für moralisch verwerflich, sich auszuruhen, faul zu sein oder Selbstfürsorge zu betreiben. Wie eine Art Todsünde wirke dabei der Gedanke, Zeit zu verschwenden, statt sie produktiv zu nutzen, schildert sie das Dilemma.
Einfach einmal Spaß haben, ohne sich selbst optimieren, weiterbilden oder den nächsten Arbeitserfolg sicherstellen zu wollen, falle vielen schwer. »Erfolg ist für uns ein Heilversprechen«, sagt sie. Von der Arbeit erwarteten wir nicht mehr nur Einkommen und Status, sondern auch, dass sie unsere Existenz legitimiere und Sinn stifte. Sie sei eng mit unserer Identität verknüpft.
Ein solches Streben nach Effizienz, Produktivität und Erfolg ist bereits tief im protestantischen Arbeitsethos verankert. Harte Arbeit und Sparsamkeit hatten darin einen ebenso bedeutsamen Stellenwert, wie der religiöse Verzicht – auf Kosten des Vergnügens. Die Vorstellung mit »weltlichen Erfolgen zu den Auserwählten zu gehören«, wirke auch heute noch nach, so Schaffner.
Erschöpfung war aber nicht zu jeder Zeit negativ konnotiert. Ende des 19. Jahrhunderts zum Beispiel kam für überreizte und überforderte Menschen mit »schwachen Nervenkostümen« eine neue Diagnose daher: die Neurasthenie. Zeitgenossen hielten Betroffene für wenig resilient, was vor allem die Folgen des industriellen Umschwungs betraf wie lange Arbeitstage und mehr Geschwindigkeit. Dennoch: »Neurasthenie war eine Trenddiagnose«, hob Schaffner hervor. Als sehr anfällig galten nämlich gebildete, hochsensible und künstlerisch veranlagte Menschen, also Feingeister. Und dazu zählte man sich seinerzeit gern.
Das spiegelte sich natürlich auch in der Literatur wider. So schuf der Schriftsteller Thomas Mann, der sich selbst als Neurastheniker bezeichnete, ebenfalls einige Figuren mit diesem Leiden. Schaffner bemerkte, dass »Der Tod in Venedig« aus dem Jahr 1911 eigentlich eine Novelle über Burn-out gewesen sei.
Auf die Neurastheniker geht immerhin zurück, dass wir bis heute nach Gründen für Erschöpfungszustände auch in der Schnelllebigkeit der Außenwelt suchen. Die Kulturhistorikerin verweist in diesem Zusammenhang unter anderem auf die neuen Technologien, die – statt uns Arbeit abzunehmen und Zeit zu ersparen – Energie rauben. »Ihr Freizeitversprechen haben sie nie eingelöst«, bedauert sie.